Die kleine Bundestagswahl
12. Mai 2012Norbert Röttgen, der Mann, der Ministerpräsident werden will, weiß die Kanzlerin hinter sich. Und Angela Merkel ist beliebt bei den Deutschen. Kanzler-Bonus zu haben, ist ein Vorteil. Nicht aber für Röttgen. Der Mann, den seine politischen Gegner "Muttis Klügsten“ hänseln, stolpert seit Wochen über seinen Ehrgeiz.
Weil er aus seinen bundespolitischen Ambitionen keinen Hehl macht und sich schon seit langem in der Rolle als Merkels Nachfolger am Tage X gefällt, kommen die Neuwahlen an Rhein und Ruhr für Röttgen höchst unpassend. Seine Karrierepläne sind in Unordnung geraten. Als gewählter Ministerpräsident würde er seine Hausmacht steigern, doch als Oppositionsführer will er nicht nach Düsseldorf wechseln. So deutlich sagt er das nicht, seine Partei im Westen versteht das aber so und sie nimmt ihm das übel. Von Beginn des Wahlkampfes an steht Röttgen, dem hohe intellektuelle wie politische Fähigkeiten zugeschrieben werden, auf verlorenem Posten. Ohne Bekenntnis zum Bundesland wird er die nötigen Prozente an der Urne nicht holen, die Demoskopen bestätigen das. Es scheint also schon alles vorbei zu sein, für die CDU - und für Angela Merkel.
Landesmutter Hannelore Kraft und die "Stones"
Auch bei der SPD könnte der Wahlausgang in Nordrhein-Westfalen (NRW) für Berlin von Relevanz sein. Die auf Bundesebene lange unscheinbare Hannelore Kraft hat als Ministerpräsidentin einer Minderheitsregierung Kontur gewonnen. Die Meinungsforscher sehen die SPD am Wahlabend deutlich vor der CDU. Im direkten Vergleich mit Herausforderer Röttgen schneidet "Landesmutter“ Kraft sogar noch besser ab. Bestätigt das Ergebnis am Sonntag (13.05.2012) die Stimmung, dann müssen auch bei der SPD in Berlin die Karten neu gemischt werden.
Bislang galten neben dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück, der frühere Finanzminister und Frank-Walter Steinmeier, ehemals Außenminister in der Großen Koalition unter Angela Merkel, als erste Anwärter auf die Kanzlerkandidatur. Die "Stones", wie sie in Anspielung auf das Wort Stein im jeweiligen Nachnamen parteiintern genannt werden, genießen in der SPD Ansehen. Allerdings nicht so sehr, dass kein Weg an ihnen vorbei führte. Hannelore Kraft könnte mit einem Sieg in NRW aus dem Männer-Trio ein gemischtes Quartett machen.
"Bambi", der Retter der Liberalen?
Wie sehr die Wahlen entlang von Rhein und der Ruhr die politischen Koordinaten in Berlin ins Wanken bringen können wird bei keiner Partei deutlicher als bei der FDP. Jahrzehntelang waren die Liberalen ein fester Mehrheitsbeschaffer für die beiden Großen CDU und SPD. Mal waren sie Juniorpartner bei den Konservativen, mal bei den Sozialdemokraten. Immer waren sie überproportional stark - gemessen an den fünf bis maximal gut acht Prozent Wählerstimmen - an den jeweiligen Kabinettstischen vertreten. Doch in dieser Legislaturperiode stürzten die Liberalen ins Bodenlose. In Serie verloren sie Landtagswahlen, lange bewegten sie sich demoskopisch gesehen mit zwei Prozent an der Grenze der Messbarkeit. Im kleinen Schleswig-Holstein konnte die Landes-FDP seit langem mal wieder punkten. Weil die Partei im Norden Distanz zur Parteizentrale in Berlin erkennen ließ, sind sich Beobachter sicher.
In Nordrhein-Westfalen tritt nun mit Christian Lindner, dem früheren Generalsekretär, ein Spitzenkandidat an, der sogar im offenen Streit mit der Führungsriege der Bundespartei lag und kurzfristig nur noch lokalpolitisch aktiv war. Lindner, genannt "Bambi“, weil er schon mit 22 Jahren in den Landtag in Düsseldorf eingezogen war, gilt als blitzgescheit und ist beliebt. Wenn er die FDP auf mehr als sieben, acht Prozent hievt, dürften die Tage Philip Röslers als Parteivorsitzender gezählt sein. Beide verbindet eine nicht zu übersehende Abneigung, die auf politisch-handwerklichen Unterschieden beruht. Ein gutes FDP-Wahlergebnis am Sonntag würde dann automatisch das Machtgefüge der Gesamt-FDP verändern. Ob das die schwarz-gelbe Koalition in Berlin stabilisiert ist eine offene Frage.
Piraten wollen auch NRW entern
Fast schon sicher ist der Einzug der Piratenpartei in den Düsseldorfer Landtag. Immer noch wird gerätselt, warum eine Partei mit so wenig Programm so schnell so viele Wähler mobilisieren konnte. Sie will die Sommerzeit abschaffen, das ist von ihrem Bundesparteitag im April im Gedächtnis geblieben. Und sie gilt mit ihrer Computer-Fixierung als Antwort auf das Internet-Zeitalter. Tatsache ist, dass die Piraten die deutsche Parteien-Landschaft aufmischen wie einst die Grünen in den 1980er Jahren. Sollte die Linke den Einzug in den Landtag schaffen, ist das Sechs-Parteien-Parlament Realität. Schon jetzt wird in den Parteizentralen in Berlin dieses Szenario für die Bundestagswahlen im nächsten Jahr durchgespielt. Keine Frage, Politik wird schwieriger.
Probelauf im Westen
Vorboten von Veränderungen der Parteienarithmetik im Bund wurden immer schon tief im Westen ausprobiert. NRW, in dem neun der 30 großen, im Deutschen Aktienindex (DAX) notierten Konzerne zuhause sind, war nicht nur in der Kohle- und Stahl-Ära mächtig, auch politisch wurden an Rhein und Ruhr Farbenspiele erprobt, die später im Bund übernommen wurden: Mitte der 60er Jahre koalierten erstmals SPD und FDP in Düsseldorf, 1969 schrieben dann Willy Brandt (SPD) und Walter Scheel (FDP) Geschichte mit ihrem sozialliberalen Bündnis.
Auch das rot-grüne Bündnis wurde, bevor es Gerhard Schröder und Joschka Fischer 1998 auf der großen bundespolitischen Bühne praktizierten, in Düsseldorf drei Jahre zuvor getestet. Und als 2005 die CDU nach Jahrzehnten in der Opposition an Rhein und Ruhr die Landtagswahlen für sich entscheiden konnte, war das Ende von Gerhard Schröders SPD in Berlin schon vorbestimmt. Die Erfahrung lehrt: Wenn Nordrhein-Westfalen hustet, hat Berlin Grippe.