Die Kinder des IS
23. November 2017Anfang Juli ging ein Video aus der nordirakischen Stadt Mossul um die Welt. Es zeigte, wie in den Ruinen der Stadt irakische Sicherheitskräfte die damals 16-jährige Linda W. aus dem sächsischen Pulsnitz festnahmen. Sie hatte sich ein Jahr zuvor heimlich dem der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) angeschlossen, war ins IS-Gebiet gereist und hatte dort den Dschihadisten Abu Osama al-Shishani geheiratet - der wahrscheinlich getötet wurde. Was man auf dem Video nicht sieht: Linda, selbst fast noch ein Kind, hat einen kleinen Säugling. Mit dem sitzt sie seither in einem Militärgefängnis in Bagdad.
Linda ist eine von geschätzt 940 Deutschen, die sich soweit islamistisch radikalisiert hatten, dass sie ins Gebiet des IS ausgereist sind. Geschätzt 20 Prozent von ihnen sind Frauen - also knapp 200. Viele von ihnen haben Kinder. Wie mehrere deutsche Medien berichteten, bemüht sich die Bundesregierung derzeit um die Rückführung solcher Kinder nach Deutschland. Dort sollen sie zunächst bei Verwandten untergebracht werden, denn die Mütter selbst werden möglicherweise nicht so schnell frei kommen. Linda W. etwa soll nach dem Willen des irakischen Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi in Bagdad vor Gericht gestellt werden. Wie Abadi im September der Nachrichtenagentur AP sagte, drohe der jungen Deutschen sogar die Todesstrafe, sollte ihr die Beteiligung an der Tötung unschuldiger Menschen nachgewiesen werden.
Frauen für die Auslandskämpfer
2014 hatte der IS eine große Werbekampagne gestartet: Mädchen und junge Frauen sollten nach Syrien und in den Irak gelockt werden. Im DW Interview erklärt die Frankfurter Islamexpertin Susanne Schröter den Grund: "Das Problem war einfach: Sie hatten keine Frauen für die Auslandskämpfer." Mit Bildern junger, attraktiver Männer, verschleierter Frauen, die ihre Kämpfer anhimmeln, mit erfundenen Liebesgeschichten im Tagebuchformat, wurden die Frauen nach dem Prinzip des "romantischen Dschihad" gezielt angesprochen. Und erfolgreich, hat Schröter beobachtet: "Das hat viele junge Frauen motiviert, tatsächlich dorthin zu ziehen: Also einen Kämpfer zu heiraten, für den man dann den Haushalt machen wollte, dem man Kinder gebären wollte, zukünftige Kämpfer-Generationen, um so das Kalifat zu unterstützen."
Eine solche Frau ist auch Nadja Ramadan. Sie sitzt zur Zeit in einem Lager in Nordsyrien. Nach der Flucht aus der selbsternannten IS-Hauptstadt Rakka wurde sie von kurdischen Peschmerga festgenommen. Im September hatte sie ein Reporter der Wochenzeitung "Die Zeit" gefunden. Vor drei Jahren war die heute 31-Jährige ins IS-Gebiet gereist. Dort heiratete Ramadan einen deutschen Dschihadisten aus Hamburg. Von ihm hat sie zwei Kinder, das eine ist knapp drei Jahre, das andere gerade mal fünf Monate alt. In einem Video appellierte sie an Kanzlerin Angela Merkel, sie nach Deutschland zurück zu holen.
In irakisch Kurdistan, in Erbil, sitzen laut Medieninformationen mindestens weitere vier Kinder mit ihren Müttern in Haft. Bekannt sind also zur Zeit ein halbes Dutzend Kinder mit deutschen Wurzeln in Gefängnissen.
Sicherheitsrisiko Kind?
Das dürften aber längst nicht alle Kinder sein, die von deutschen Müttern im IS-Gebiet geboren wurden oder die dort zumindest zeitweise aufgewachsen sind. Die Einschätzung der Islamexpertin Schröter: "Die jungen Frauen haben alle Kinder. Das ist eines der Probleme, mit denen wir es als Gesellschaft demnächst zu tun bekommen: Die Kinder der zurückreisenden Frauen, die nach Syrien und in den Irak gegangen sind, um dort im Kalifat zu dienen. Diese Kinder sind möglicherweise radikalisiert. Sie sind vielleicht traumatisiert. Und da wachsen natürlich erhebliche Probleme auf uns zu."
Die Bemühungen, deutsche Kinder von IS-Anhängern nach Deutschland zu holen, wird daher auch unter Sicherheitsaspekten diskutiert. Erst Mitte Oktober hatte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen gewarnt: "Wir sehen die Gefahr, dass Kinder von Dschihadisten islamistisch sozialisiert und entsprechend indoktriniert aus den Kampfgebieten nach Deutschland zurückkehren." Allerdings ist dieses Risiko um so geringer, je kleiner die Kinder sind. Nach einem Bericht der Washington Post vom letzten Jahr begann für Kinder im IS-Gebiet die Kampfausbildung bereits mit sechs Jahren. Im Teenageralter sollten sie bereit sein für Selbstmordattentate.
Das Ende des IS bedeutet nicht das Ende der extremistischen Indoktrination von Kindern und Jugendlichen oder deren Erziehung zum vermeintlichen Dschihad: In der nordwestsyrischen Provinz Idlib hat im Sommer der Al-Kaida Ableger Haiat Tahrir al-Sham vollständig die Kontrolle übernommen. Und dass sich deren Lehrplan nicht wirklich von dem des IS unterscheidet, berichtete schon 2015 das Onlinemedium Vice.