Die Katastrophe von Norilsk
5. Juni 2020Es ist kurz nach vier Uhr nachmittags in Moskau am Mittwoch, den 3. Juni 2020, als Wladimir Putin in seinem von vielen kleinen Bildschirmen flimmernden Arbeitszimmer die zugeschalteten Chefs seiner regionalen Behörden des Gebiets Krasnojarsk fragt: "Habt ihr noch alle?"
Der russische Präsident ist sauer, weil seine regionalen Behörden den Unfall in einem Bergbaukonzern hinter dem Polarkreis erst Tage nach dem dramatischen Auslauf des Dieselöls melden. "Warum erfahren die Staatsorgane davon erst zwei Tage später?", fragt Putin die Bildschirm-Runde vor laufenden Kameras. Zu diesem Zeitpunkt kennt die Welt bereits den riesigen rotbraunen Fleck am Fluss Ambarnaja aus sozialen Netzwerken.
Schuldzuweisungen
Putin ruft den Notstand in der Region aus. Der Staatsanwalt leitet mehrere Strafverfahren ein. Das staatliche Untersuchungskomitee ermittelt. Die Beamten schieben sie gegenseitig die Schuld zu: Wer hat wen und wann informiert beziehungsweise nicht informiert.
Sergej Lipin, Chef von Nornickel (früher Norilsk Nickel), dem der ausgelaufene Dieseltank gehört, versichert, seine Arbeiter hätten bereits 500 Kubikmeter des verschmutzten Wassers entfernt. Die Säuberungsaktion dauere an. Die staatliche russische Umweltaufsicht meldet, durch den Unfall sei kein Grundwasser verseucht.
Andere Experten schlagen dagegen Alarm: "Wir haben es hier mit einem Unfall hinter dem Polarkreis zu tun. Das ist die in dieser Region bislang größte technisch verursachte Katastrophe," meint Wladimir Tschuprow von Greenpeace Russland gegenüber der DW. Dass der Kreml davon erst einige Tage später erfuhr, wundert ihn nicht: "Wir haben es hier mit einem System zu tun. Die Verschleierung solcher Unfälle ist leider eine übliche Praxis für viele Unternehmen."
Auf die DW-Frage, wie hoch der Schaden sei, verweist Greenpeace-Mann Tschuprow auf die Chefin der Umweltbehörde Rosprirodnadzor Swetlana Rodionowa, die mittlerweile den Ort der Katastrophe besuchte. Ihr zufolge seien ca. 20 Kilometer des Flusses verseucht. Die Säuberung des Wassers könnte Wochen dauern. Ihre Rekultivierung bis zu zwei Jahren, beklagt Tschuprow.
Unfall oder Fahrlässigkeit?
Der Bergbaukonzern Nornickel sieht die globale Erderwärmung als Hauptursache. Weil der Permafrostboden hinter dem Polarkreis zur Zeit schmelze, könnten die Stützpfeiler des riesigen Dieseltanks sich verschoben haben. Das wiederum könnte zum verhängnisvollen Leck und dem Auslauf des Öls in den Fluss geführt haben.
Russische Umweltschützer schließen jedoch die banale Fahrlässigkeit nicht aus. Alexej Knischnikow, Chef der Abteilung Business Environmental Responsibility des WWF-Russland wirft Nornickel im DW-Interview "die zum Himmel schreiende Schlamperei und Verletzung der elementaren Grundlagen der Umweltsicherheit" vor: "Wir haben in Russland bestimmte Umweltschutzforderungen für solche Behälter. Sie müssen zum Bespiel von einem Damm umgeben sein, der eine bestimmte Höhe haben und für Flüssigkeiten undurchlässig sein muss, damit in einem solchen Fall die Ölprodukte auf dem Industrie-Gelände bleiben können."
Katastrophe ohne Konsequenzen?
Die Staasermittler müssen jetzt herausfinden, warum das bei Nornickel offensichtlich nicht der Fall war oder was sonst zum Desaster führte. Die von der DW befragten Politik-Experten zweifeln allerdings, dass die Umweltkatastrophe von Sibirien spürbare Konsequenzen nach sich ziehen wird.
Ilja Graschenkow vom Zentrum für Regionale Politik beklagt, dass dieser Skandal zwar in den sozialen Medien wütet, nicht aber im Staatsfernsehen, wo er "kaum wahrgenommen wird" (sieht man von Putins denkwürdiger Video-Konferenz ab). "Wir haben es hier mit einem Kampf der Eliten zu tun", erklärt der Politologe im DW-Interview. "Dieser Kampf wird geführt für das Unternehmen Nornickel, für den Gouverneursposten von Krasnojarsk, aber nicht für die Umwelt. Damit das ganze Ausmaß der Katastrophe klar wird, damit sie auf die Agenda der Staatspolitik kommt, braucht man den Willen von oben. Der fehlt aber."
Denn der Unfall von Norilsk passiert zu einem für den Kreml sehr ungünstigen Zeitpunkt. In wenigen Wochen, am 1. Juli sollen die Russen über die Verfassungsänderungen befragt werden. So eine Umweltkatastrophe könnte dieser Befragung nur schaden, meint Graschenkow: "Darum wird sie nicht wirklich beachtet."