Die Hoffnung ruht auf den "Ankerkindern"
1. Oktober 2015Die Spurensuche beginnt in Hamburg. Allein in dieser Metropole vervierfachte sich die Zahl der so genannten unbegleiteten Minderjährigen, also von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren, die ohne Eltern oder sonstige Familienmitglieder nach Deutschland kamen. Im Jahr 2014 waren es in der Hansestadt noch 650 solcher Neuankömmlinge. Im Jahr 2015 sind es bisher schon 2800. Natürlich ist die Zahl der Flüchtlinge insgesamt gestiegen, aber das alleine, so sagen Flüchtlingshelfer in Hamburg, kann die Ursache des starken Anstiegs unbegleiteter Minderjähriger nicht erklären. Hinzu kommt, dass nicht alle Minderjährigen ihre Eltern während der Flucht verloren haben. Sie müssen sich also von Anfang an alleine auf den Weg gemacht haben. Die meisten kommen aus Afghanistan, Syrien oder Eritrea. Aufgegriffen werden die jungen allein reisenden Flüchtlinge meist von der Polizei.
Poker um das wahre Alter
Bei unbegleiteten Minderjährigen, zu 90 Prozent junge Männer, fehlten häufig die Ausweispapiere, stellt der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft in Hamburg, Joachim Lenders, fest.
Behörden seien so auf eigene Beobachtung angewiesen, um Herkunft und Alter zu bestimmen.
Ansonsten blieben nur Selbstauskünfte der Flüchtlinge. Dazu bemerkt Lenders: "Da wird häufig geschummelt". Niemand will schon 18 sein und damit als Erwachsener gelten, für die härtere Bestimmungen gelten. Nicht selten müsse ein Altersgutachten durch einen Gerichtsmediziner angefordert werden. Es habe sich offenbar herumgesprochen, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland besonderen Schutz genießen. Sie können nicht so schnell abgeschoben werden und erhalten umfangreiche Hilfen. Kommen deshalb so viele junge Menschen unbegleitet ? "Hier und da wird kolportiert, dass dahinter ein System stehen soll. Belegbar ist das nicht", sagt Lenders. Schleuser würden sich zwar damit brüsten, entsprechende Einreisetipps zu geben. Lenders gibt nichts darauf.
Flucht mit klarer Mission
Im bayrischen Landkreis Rosenheim werden derzeit 2100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut. Die Bundespolizei hat dort ihre eigene Erfahrung gemacht : "Da kommen gezielt 16 und 17-Jährige und fragen direkt nach ihrer Ankunft, wie das denn mit dem Familiennachzug aussehe" berichtet die bayrische Bundestagsabgeordnete Daniela Ludwig (CSU), die sich intensiv mit den Themen Asyl und Migration beschäftigt.
Offenbar werden vor allem junge Männer alleine nach Deutschland vorausgeschickt, um ihre Familie nachzuholen. Der Familiennachzug ist mit einem entsprechenden Aufenthaltsstatus geregelt. "Ich kenne einige Männer aus Afghanistan", erzählt Daniela Ludwig, "für die eine gesamte Dorfgemeinschaft zusammen gelegt hat, für die Schleusung, weil alle sagten, dieser Mann hat etwas drauf, er wird es in Deutschland schaffen und davon profitieren wir dann in der Heimat auch".
"Ankerkinder" nennen das Jugendämter, die sich um die minderjährigen Flüchtlinge ohne Begleitung kümmern. Der Leiter des Kreisjugendamts in Rosenheim, Johannes Fischer, bestätigt, dass es solche Fälle immer wieder gibt. Die minderjährigen Kinder sollen in Deutschland Fuss fassen und als Absicherung der Familie dienen. Aber wie viele von den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mit dieser Motivation kommen, könne er nicht einschätzen. Angaben aus Befragungen von Flüchtlingen oder betreuenden Behörden würden nirgends gesammelt. Zu ihren Eindrücken bemerkt die Abgeordnete Daniela Ludwig: "Wir werden das beobachten und werden vermutlich auch einschreiten müssen".
Hoffnung auf geändertes Asylrecht
Auch Andrea Lindholz (CSU), ebenfalls Bundestagsabgeordnete aus Bayern und als Mitglied des Innenausschusses bestens mit der Thematik vertraut, mahnt zur vorsichtigen Einordnung des angestrebten Familiennachzugs. "Ob das ein Trend ist, können wir noch nicht sagen". Man müsse sich schon die Flüchtlingszahlen absolut ansehen und dann die Zahlen der unbegleiteten Minderjährigen ins Verhältnis setzen. "Da kann man nicht von einem zielgerichteten Ansturm sprechen". Die Gesamtherausforderung sei wesentlich größer. Das Problem in Deutschland sei das hohe Niveau der intensiven Betreuung und Versorgung um das Kindeswohl sicherzustellen. Hier müssen alle Kinder gleich behandelt werden."Die Missbrauchsquote dieser Fürsorge ist relativ gering", sagt Lindholz, die auch über zehn Jahre Erfahrung als Familienrechtlerin in ihre Arbeit einbringt.
Mit etlichen Gesetzesänderungen, die mit dem Jahreswechsel gelten sollen, würde es für unbegleitete Minderjährige auch schwerer, beim Alter zu manipulieren. Medizinische Untersuchungen zur Altersfeststellung würden rechtlich besser abgesichert. Und die Verteilung der alleinstehenden Flüchtlingskinder auf das gesamte Bundesgebiet nach einem gerechteren Schlüssel als bisher, würde es erlauben, dass viele Jugendämter mehr Kapazitäten haben, Fluchtumstände zu prüfen und entsprechend zu begleiten, so die Einschätzung von Andrea Lindholz.