Die Hölle einer koreanischen "Trostfrau"
3. September 2013Ohne zu stocken erzählt sie von dem Tag, an dem es passierte: Auf offener Straße, in Busan, ganz im Südosten der koreanischen Halbinsel, schlugen die Männer zu. Es war später Nachmittag, irgendwann zwischen 17 und 18 Uhr, erinnert sich Lee Ok-Seon. Sie packten das Mädchen unter den Armen, zerrten es in ein Fahrzeug. Dann brachten sie es in eine sogenannte "Troststation" im Nordwesten Chinas. Lee Ok-Seon war 14 Jahre alt. Sie ahnte nicht, dass sie ihr Heimatland fast sechs Jahrzehnte nicht wiedersehen würde. Dass ihre Eltern irgendwann die Hoffnung auf ein Wiedersehen begraben und sie für tot erklären lassen würden. Und sie wusste auch nicht, welche Qualen ihr bevorstanden.
Drei Jahre - bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges - verbrachte Lee Ok-Seon in diesem Militärbordell in der Provinz Jilin, wurde täglich zum Geschlechtsverkehr mit japanischen Soldaten gezwungen. Über die Details dieser Tortur spricht die heute 86-Jährige nicht, sie fasst die Erfahrung in einem Satz zusammen. "Das war kein Ort für Menschen, das war ein Schlachthof." Ihre Stimme klingt härter, als sie das sagt. Die drei Jahre dort haben ihr ganzes Leben geprägt. "Der Krieg ist längst zu Ende, die anderen sind befreit worden, aber ich nicht."
Anderer Ausdruck für Sexsklavinnen
Lee Ok-Seons Schicksal ist bei weitem kein Einzelfall. Allerdings: Wie vielen Frauen es ähnlich erging wie ihr, ist nicht bekannt. "Schätzungen zufolge sind es um die 200.000 gewesen, aber bestätigt ist diese Zahl nicht", erklärt Bernd Stöver, Historiker an der Universität Potsdam gegenüber der Deutschen Welle. Der Begriff "Trostfrauen" an sich - oder auf Englisch "comfort women" - erzeugt aus Sicht des Historikers ein schiefes Bild. "Im Grunde genommen ist er falsch. Es waren Zwangsprostituierte. Trostfrauen werden sie nur verharmlosend genannt."
Nicht nur Mädchen und Frauen aus dem seit 1905 von Japan besetzten Korea wurden als Zwangsprostituierte in die Bordelle verschleppt, die im gesamten damaligen Herrschaftsgebiet Japans eingerichtet wurden. Die Opfer stammten auch aus anderen Ländern: neben China beispielsweise aus Malaysia oder den Philippinen. Offiziell dienten die "Troststationen" dazu, den Kampfgeist der japanischen Armee zu steigern - und Frauen in den besetzten Gebieten vor Vergewaltigungen durch japanische Soldaten zu schützen. Für die meist minderjährigen Frauen in den "Troststationen" allerdings bedeuteten sie ein tägliches Martyrium. Viele von ihnen überlebten die Qualen nicht, Schätzungen zufolge starben mehr als zwei Drittel vor Kriegsende.
Schweigen aus Scham und Schande
"Wir wurden oft geschlagen, bedroht, mit Messern verletzt", erinnert sich Lee Ok-Seon. "Wir waren elf, zwölf, dreizehn oder vierzehn Jahre alt und haben nicht daran geglaubt, dass uns jemand da herausholen würde." Sie sei während der Zeit im Bordell komplett von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, habe niemandem vertraut. Die Verzweiflung sei allgegenwärtig gewesen. "Viele Mädchen haben versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie haben sich ertränkt oder erhängt." Auch sie selbst war an einem Punkt, an dem sie keinen anderen Ausweg mehr sah, auch sie wollte zum Strick greifen. Doch dann überlegte sie es sich doch noch anders. "Es ist einfach zu sagen: Ich möchte am liebsten tot sein. Es ist ungleich schwieriger, es dann tatsächlich zu tun. Das ist ein großer Schritt."
Lee Ok-Seon schreckte zurück vor diesem Schritt - und überlebte den Krieg. Nach der japanischen Kapitulation im Spätsommer 1945 war der Besitzer des Bordells über Nacht verschwunden, die Mädchen waren plötzlich frei. Und vollkommen orientierungslos. "Ich wusste nicht, wo ich hingehen soll. Ich hatte kein Geld. Ich war obdachlos, habe auf der Straße geschlafen", erzählt sie. Den Weg nach Korea kannte sie nicht, wollte ihn auch gar nicht gehen. Zu groß sei die Scham gewesen. "Ich wollte lieber in China bleiben und hier sterben. Wie hätte ich nach Hause gehen können? Auf meinem Gesicht stand geschrieben, dass ich eine 'Trostfrau' bin. Ich hätte meiner Mutter nicht mehr ins Gesicht sehen können."
Ersatzleben in China
Lee Ok-Seon lernte einen koreanisch-stämmigen Mann kennen, heiratete ihn, kümmerte sich um seine Kinder. "Ich habe es als meine Aufgabe angesehen, diese Kinder, deren Mutter gestorben war, großzuziehen." Sie knetet sich die Hände und fügt dann hinzu: "Ich selbst konnte ja keine bekommen." Lee Ok-Seon hat keine Gebärmutter mehr. In Folge von Geschlechtskrankheiten wie beispielsweise Syphilis, die sie sich im Bordell immer wieder zuzog, wurde sie nach ihrer Freilassung so krank, dass sie fast gestorben wäre. Um ihre Überlebenschancen zu erhöhen, wurde die Gebärmutter entfernt.
Im chinesischen Yanji lebte sie dann ein zurückgezogenes Leben und versuchte - wie sie es ausdrückt - aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen. So vergingen Jahrzehnte. Ihr Mann habe sie immer gut behandelt, sagt Lee Ok-Seon und lacht zum ersten Mal. "Sonst hätte ich es ja nicht so lange mit ihm ausgehalten."
Ähnlich wie Lee Ok-Seong ging es auch den anderen Frauen, die die Qualen der "Troststationen" überlebt hatten. Sie versuchten, irgendwie wieder Fuß zu fassen, trauten sich aber nicht, über das, was ihnen passiert war, zu sprechen. Aus Angst, ausgegrenzt zu werden und Schande über die Familie zu bringen. Zwangsprostitution sei ein absolutes Tabu gewesen, erklärt Bernd Stöver. "Gesellschaftlichen Rückhalt gab es nicht. Damit an die Öffentlichkeit zu gehen hätte bedeutet, dass man danach außerhalb der Gesellschaft steht." Sowohl in Korea als auch in Japan existierte das Thema nach dem Ende des Krieges daher praktisch nicht. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich daran etwas änderte.
Unaufgearbeitete Vergangenheit und Nationalismus
Erst 1991 ging die erste ehemalige "Trostfrau" mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit. Ihr Schritt ermutigte mehr als 250 weitere Frauen, es ebenso zu machen, endlich zu reden und eine Entschuldigung sowie Entschädigung von Seiten der japanischen Regierung zu fordern. Seitdem treffen sich jeden Mittwoch Betroffene, Angehörige und Unterstützer vor der japanischen Botschaft in Seoul. Sie halten Transparente hoch, skandieren Parolen. Doch bislang haben sie nicht bekommen, was sie sich wünschen.
Denn Japan tue sich schwer mit diesem dunklen Kapitel der eigenen - unaufgearbeiteten - Kriegsvergangenheit, erklärt der Potsdamer Historiker Bernd Stöver. Zwar wurde in Japan 1993 eine von der Regierung beauftragte Studie veröffentlicht, die sowohl die Existenz der "Trostfrauen" als auch die Rolle des japanischen Militärs offiziell anerkannte. "In der Folge hat sie die japanische Regierung auch mehrfach entschuldigt. Aber sie hat nie wirklich Konsequenzen daraus gezogen", so Stöver.
Es habe sich dabei immer nur um einzelne Entschuldigungen gehandelt, nicht um ein umfassendes Schuldeingeständnis - inklusive offizieller Entschädigungszahlungen. Abgesehen von einigen Hundert Einzelentschädigungen aus Mitteln eines von der Regierung eingesetzten privaten Fonds haben die Frauen bis heute kein Geld erhalten. Und das werden sie voraussichtlich auch nicht mehr. "2007 hat das Oberste Gericht entschieden, dass sie keinen Anspruch auf Entschädigungen haben."
Für die Opfer ein Schlag ins Gesicht. Bis heute kommt es immer wieder vor, dass vor allem nationalistische Politiker in Japan die Existenz der "Troststationen" schlicht leugnen. Oder verharmlosen, was dort passierte. So sagte beispielsweise der derzeit wieder amtierende Premierminister Shinzo Abe während seiner ersten Amtzeit im Frühjahr 2007, es gebe "keinen Beweis dafür, dass Zwang auf die Frauen ausgeübt" worden sei. Später entschuldigte sich Abe für seine heftig kritisierte Aussage.
Erst im Frühjahr 2013 sorgte ein weiterer japanischer Politiker im Zusammenhang mit dem Thema für Schlagzeilen: Der Bürgermeister von Osaka, Toru Hashimoto, bezeichnete gegenüber Journalisten Sexsklaverei in Kriegszeiten als "notwendig", um die Disziplin innerhalb der Truppe zu wahren. Eine ungeheuerliche Aussage, findet Lee Ok-Seon. "Ich kann nicht begreifen, wie man so etwas behaupten kann. Wer nicht sehen will, was damals passiert ist, was die Japaner getan haben, der ist für mich kein Mensch."
Keine Familie mehr in Korea
Lee Ok-Seon lebt mittlerweile wieder in Südkorea. Im Jahr 2000 - nach dem Tod ihres Mannes - verspürte sie schließlich doch noch den Drang, zurückzukehren und ihre Geschichte öffentlich zu machen. Seitdem lebt sie in der Nähe von Seoul im sogenannten "House of Sharing", einem betreuten Wohnprojekt für ehemalige Zwangsprostituierte. Dort wurde sie erstmals auch psychologisch betreut, bekam Hilfe im Alltag. Und endlich wieder einen neuen Pass.
Bei den Nachforschungen zu ihrer Person erfuhr sie, dass ihre Eltern mittlerweile verstorben waren. Ihr jüngster Bruder aber lebte noch. Er half bei der Rekonstruktion ihrer Daten. Doch dann verlief der Kontakt im Sand. Denn genau das, wovor Lee Ok-Seon sich immer gefürchtet hatte, trat ein: Der Bruder wollte nichts mit ihr zu tun haben. Zu sehr schämte er sich, dass seine Schwester eine ehemalige "Trostfrau" ist.