Die EU will Schengen retten
4. März 2016"Wir befinden uns an einem besonderen Moment unserer Geschichte", orakelte EU Flüchtlings- und Innenkommissar Dimitrios Avramopoulos. Es gehe um die Zukunft von Schengen und die Einigkeit als Europäische Union. Und es gehe um das, "was wir in den letzten 60 Jahren aufgebaut haben." Damit meint er vor allem den gemeinsamen Wirtschaftsraum und die Bewegungsfreiheit in "Schengenland". Die Schließung der Grenzen in Europa würde Kosten von mindestens 18 Milliarden Euro pro Jahr verursachen, hat Brüssel errechnet. Mehr Lastwagenstaus, weniger Touristen, mehr Grenzschützer - dass alles würde sich zu Milliardenverlusten addieren. Nur hat diese Rechnung bislang weder in Wien noch auch dem Balkan ein Umdenken ausgelöst. Kann Brüssel also die politischen Gegensätze nicht auflösen, konzentriert sich die Kommission zunächst auf die operative Seite des Problems.
Fahrplan zur Wiederherstellung von Schengen
Die Sache steht und fällt mit dem Schutz der griechisch-türkischen Grenze. Bis Ende nächster Woche soll Griechenland einen Aktionsplan vorlegen, wie es die fünfzig Einzelforderungen für deren Schutz, die umfassende Registrierung von Flüchtlingen, die Rückführung von Wirtschaftsmigranten und mehr umsetzen will. Ende März dann will Frontex noch einmal Grenzschützer zur Unterstützung der Griechen einwerben. Mitte April dann sollen die neuen Maßnahmen überprüft werden. Wenn sie nicht funktionieren, will die Kommission im Mai die Frist für teilweise Grenzschließungen auf zwei weitere Jahre verlängern. Das würde bedeuten, der Plan ist gescheitert. Funktioniert er einigermaßen, soll schon im Juni der Europäische Rat eine gemeinsame EU-Grenzschutztruppe zum Schutz der Außengrenzen beschließen. Sie soll im September den Dienst antreten und bis November arbeitsfähig sein, so dass im Dezember alle Binnengrenzen in der EU wieder geöffnet werden könnten. Soweit die Theorie.
Nichts geht ohne die Türkei
"Die Türkei hat als Korridor gedient" und die Flucht von Hunderttausenden möglich gemacht, sagt der EU-Kommissar, deswegen sei die Zusammenarbeit mehr als entscheidend. "Die EU braucht die Türkei, um dieses Problem zu bewältigen." Und die neue Kooperation zeige auch schon erste Früchte, denn es seien bereits die ersten 300 illegalen Migranten zurückgebracht worden. Das ist einer der Ecksteine der Strategie: Sie funktioniert nur, wenn die türkische Seite jene Flüchtlinge zurücknimmt, die in Europa keinen Anspruch auf Schutz haben. Und wenn andererseits so viele Flüchtlinge wie möglich gar nicht erst europäischen Boden erreichen, sondern bereits vor der EU-Außengrenze aufgehalten werden. Das kann allerdings nur funktionieren, wenn man der Türkei größere Kontingente von Flüchtlingen abnimmt, schließlich beherbergt sie schon zweieinhalb Millionen Syrer bei sich. Nur dass bisher nicht zu erkennen ist, welche EU-Mitgliedsländer außer Deutschland diese Lösung mittragen würden.
Fahrplan für die Zusammenarbeit mit Ankara
Die EU-Kommission legt gleichzeitig einen Bericht über die Schritte zur Visa- Liberalisierung für die Türkei vor. Im Juli sollen die Fortschritte dazu bewertet und im Oktober die Lockerung dann beschlossen werden, die unmittelbar in Kraft treten könnte. Das gehört zu den Karotten, mit denen der türkischen Regierung die Kooperation schmackhaft gemacht werden soll. Gleichzeitig bereitet Brüssel die Eröffnung weiterer Kapitel bei den Beitrittsverhandlungen vor. Und schließlich fließt auch schon das erste Geld: Drei Milliarden hat die EU in Aussicht gestellt, wenn die Türkei die Flüchtlinge an ihren Grenzen zurück hält. 95 Millionen werden schon jetzt locker gemacht. Das Geld fließt etwa zur Hälfte in die Schulbildung syrischer Kinder und für Lebensmittelgutscheine an das World Food Program.
Die Pläne scheitern an der Umsetzung
Die Frage, wer überhaupt noch willkommen sei in Europa, wenn die neuen Maßnahmen greifen, kann die EU-Kommission nur abstrakt beantworten:"Wir sind offen für alle, die internationalen Schutz brachen", sagt Dimitris Avramopoulos. Nach Angaben des UNHCR allerdings sind 48% der eintreffenden Flüchtlinge Syrer. "Sie geben sich nicht als Syrer aus, sie sind Syrer", hatte ein Sprecher der UN-Flüchtlingsorganisation betont. Sie müssten also auf jeden Fall nach Griechenland und/oder Italien hineingelassen und dann umverteilt werden. Was bekanntermaßen bisher nicht geklappt hat. Ähnliches könnte auch für einen Teil der Iraker und Afghanen gelten, die zumindest einen temporären Anspruch auf Schutz haben können. Genau betrachtet lässt sich der Zustrom der Menschen bestenfalls halbieren, selbst wenn alle Maßnahmen vollständig umgesetzt werden.
Einmal mehr sprach auch der Flüchtlingskommissar vom "hässlichen Gesicht der Schlepper". Schon gestern hatte EU-Ratspräsident Donald Tusk in einem dramatischen Appell an Wirtschaftsmigranten gefordert, sie sollten Zuhause bleiben und den Versprechen der Schlepper nicht glauben. Es gebe in Europa keine Aufnahme für sie. Doch der bei jedem europäischen Treffen beschworene Kampf gegen Schlepper steht weitgehend auf dem Papier. Der Menschenhandel ist längst ein Multimilliarden-Euro Geschäft, das in den korrupten Strukturen einiger Balkanländer und der Türkei tief verwurzelt ist.