Die EU sucht Wege für den Wiederaufbau
16. April 2020Normalerweise setzt es Beschimpfungen für faule Abgeordnete, wenn die Präsidentin der EU-Kommission vor den leeren Reihen des Europaparlaments reden muss. Dieses Mal aber war aufgrund der Abstandsregeln nur eine Handvoll Parteivorsitzende direkt in den Saal gekommen. Der Rest verfolgte die Debatte am heimischen Bildschirm und gewährte dabei interessante Einblicke in das eigene Wohnzimmer, manchmal mehr oder weniger geschmackvoll dekoriert mit Goldrahmen und Kunstblumen. Die Neugier auf die Wohnungen der anderen ersetzt in diesen Tagen den üblichen Brüsseler Klatsch und Tratsch.
Von der Leyen entschuldigt sich bei Italien
In ihrer Rede vor diesem leeren Haus räumte Ursula von der Leyen ein, dass die EU auf die Pandemie nicht vorbereitet war. Und vor allem hätten die Mitgliedsstaaten Italien allein gelassen: "Es stimmt, dass viele nicht rechtzeitig da waren, als Italien zu Beginn Hilfe brauchte. Und es ist richtig, dass Europa sich dafür aus ganzem Herzen entschuldigt".
Inzwischen will sie aber beweisen, dass die EU nicht mehr so hilflos und disparat reagiert wie zu Beginn: "Wir haben in den letzten vier Wochen mehr bewegt als in vier Jahren in der letzten Krise" (Finanzkrise 2008), lobt sie ihre inzwischen unermüdlich arbeitende Behörde. Regeln für den Luftverkehr oder das Verbot der Staatshilfen seien innerhalb von Tagen an die neue Realität angepasst worden. Tatsächlich tut die Kommission inzwischen alles, um den Mitgliedsländern Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
Darüber hinaus ist Brüssel extrem schnell geworden, Mittel freizugeben: Ob es 1,2 Milliarden zur Stützung kleiner und mittlerer Unternehmen in Griechenland sind oder 200 Millionen für portugiesische Fischer - Ursula von der Leyen will ihre Handlungsfähigkeit beweisen. Und sie will dabei auch ihre Macht ausweiten, denn sie fordert, ein Multi-Milliardenprogramm für den "Kickstart der europäischen Wirtschaft" in ihrem Haushalt anzusiedeln.
EU-Kommission will Corona-Investitionsfonds in ihrem Haushalt
Das Ganze soll eine Art Marshall-Plan für Europa werden, mit innovativen Lösungen für massive private und öffentliche Investitionen. Zahlen wurden noch nicht genannt, aber es wird um zig Milliarden Euro gehen, die im nächsten siebenjährigen Finanzrahmen zur Stützung von Corona-geschädigten Industrien und Volkswirtschaften mobilisiert werden sollen. "Der europäische Haushalt wird das Mutterschiff der (wirtschaftlichen) Erholung".
Der Charme dieses Vorschlags liegt darin, dass der EU-Haushalt ein eingeführtes Verteilungsinstrument ist, über dessen Funktionieren die Mitgliedsländer nicht streiten müssten. Außerdem würde von der Leyen automatisch zur mächtigsten Frau Europas, weil sie Zugang zum Geldhahn hätte. Und schließlich könnte der leidige Grundsatzstreit zwischen den nördlichen und den südlichen Mitgliedsländern über die Corona-Bonds, gemeinsame Schuldtitel zur Bewältigung der Krise, umgangen werden.
Aber ob die Regierungschefs sich auf diese Lösung einlassen, ist zweifelhaft. Und ob Italien damit zufrieden wäre, das in seiner Rolle als schwer gekränktes EU-Mitglied ultimativ die Einrichtung eines gemeinsamen Schuldenfonds fordert, ist auch offen. Die Regierung in Rom lehnt es bisher ab, Geld aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus anzufragen, weil sich damit der Stand der Staatsschulden erhöhen würde und weil sie keine Auflagen erfüllen will.
Abgeordnete fordern Solidarität – aber wie?
Auch von den Abgeordneten kam noch einmal Kritik an der Krisenreaktion der EU: "Europa war schrecklich unvorbereitet und einige haben einen furchtbaren Egoismus gezeigt", klagte der Raffaele Fitto von den italienischen Rechts-Konservativen. Selten hat eine unbedachte Entscheidung wie die in Berlin und Paris, zunächst die Ausfuhr von Schutzmasken zu verbieten, so viel politisches Porzellan zerschlagen. Abgesehen davon gibt es große Einigkeit quer durch die Parteien, dass man jetzt Gemeinschaftsgeist und "wahre Solidarität" zeigen müsse.
Gestritten wird aber auch im Europaparlament um das "Wie": Die große Mehrheit der pro-europäischen Parteien will zumindest eine Art Mini-Corona-Bonds, die vom EU-Haushalt garantiert werden könnten, um einigen Ländern den Zugang zum Geld zu erleichtern. Sozialisten, Grüne und Linke wiederum kämpfen weiter für echte Corona-Bonds, einen riesigen Topf mit Gemeinschaftsschulden, der von der Wirtschaftskraft der stärkeren EU-Länder garantiert würde, und der vor allem von den überschuldeten Südländern ohne negative Folgen am Finanzmarkt und ohne Reformdruck genutzt werden könnte. Je nach politischer Ausrichtung, wird an diesem Punkt das Wort "Solidarität" definiert.
Europäische Investitionen in Medizin und Forschung
Darüber hinaus wollen die Grünen über die Grundlagen des Lebens in Europa prinzipiell nachdenken: "Die Zeit des Immer mehr", ist vorbei, sagt Philippe Lamberts von den Grünen. Corona habe die Verletzbarkeit der Ärmeren in unseren Gesellschaften gezeigt, und man müsse nach der Krise zu einem neuen ökonomischen und sozialen Gleichgewicht finden. Auch er fordert "totale Solidarität" und wird beim virtuellen Gipfeltreffen der Regierungschefs in der nächsten Woche erfahren, wie weit sie bereit sind, dabei zu gehen.
Darüber hinaus hat das Parlament einen Vorschlag gemacht, umgehend freie EU-Mittel zur Stützung der Gesundheitssysteme in den Mitgliedsländern einzusetzen und für die Zukunft einen Pandemie-Krisen-Reaktionsmechanismus zu schaffen. Man will gemeinsam in Ausrüstung und medizinische Forschung investieren sowie die lebenswichtige Produktion einiger medizinischer Güter nach Europa zurückholen, um die Abhängigkeit von Asien zu verringern, wie Liberalenchef Dacian Ciolos erklärt. Und schließlich wird die Kommission aufgefordert, die Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn und Polen voran zu treiben, die die Corona-Krise für undemokratische Maßnahmen nutzten und die Werte der EU verletzten.
Abgestimmt wird übrigens per E-Mail – auch das eine Neuerung wie die ganze virtuelle Plenarsitzung. Die Frage ist, wie viel Geschmack die Abgeordneten an diesem Format finden und ob es ihnen künftig den Reisezirkus Brüssel-Straßburg vielleicht doch verleiden könnte.