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Die dunkle Seite der deutschen Einheit

Marcel Fürstenau21. September 2016

Die Ostbeauftragte der Bundesregierung sorgt sich wegen der spürbaren Fremdenfeindlichkeit um die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Gebiet der früheren DDR. Sie sieht aber auch positive Entwicklungen.

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Kuchen mit Deutschlandfahne
Bild: Fotolia/Masson

"Wir haben in Ostdeutschland in den letzen 26 Jahren viel erreicht", sagt Iris Gleicke am Mittwoch in Berlin, als sie den "Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit" vorlegt. Und wenn die Sozialdemokratin das Wort "wir" verwendet, dann nicht nur in ihrer offiziellen Funktion als Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. Gleicke stammt nämlich aus Thüringen, also aus dem Osten. Ihre Heimatregion gehörte bis 1990 zur DDR. Dass 26 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer von den neuen Bundesländern gesprochen wird, mutet schon kurios an. Aber solche Erwägungen spielen für die 52-Jährige keine Rolle.

Ihre größte Sorge ist die gesellschaftspolitische Entwicklung östlich der Elbe, konkret, die spürbare Fremdenfeindlichkeit. Die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten sei im Verhältnis zur Bevölkerungszahl im Osten "dramatisch" gestiegen. Rechtextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz stellten eine "sehr ernste" Bedrohung für die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar. Die Zunahme sei mehr als ein "einfaches Alarmzeichen", wenn Übergriffe aus der Mitte der Gesellschaft mitgetragen oder stillschweigend akzeptiert würden. Diese Vorkommnisse hätten weltweit für Aufmerksamkeit und Entsetzen gesorgt.

"Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist nicht fremdenfeindlich"

Notwendig sei entschlossenes Handeln der Politik und der Zivilgesellschaft, "um den gesellschaftlichen Frieden in Ostdeutschland zu sichern". Gleicke betonte aber auch: "Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist nicht fremdenfeindlich oder rechtsextrem." Sie würde sich jedoch wünschen, dass diese Mehrheit "noch deutlicher und lauter" Stellung beziehe. Die Ostdeutschen hätten es selber in der Hand, ob sie die Städte und Dörfer beschützten oder dem "brauen Spuk" überließen.

Iris Gleicke, Ostbeauftragte der Bundesregierung.
Betont das Gute und benennt das Schlechte: die Ostbeauftragte Iris GleickeBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Kleinere und größere Erfolge beim mühseligen Prozess des Zusammenwachsens zwischen Ost und West geraten angesichts brennender Flüchtlingsunterkünfte schnell aus dem Blickfeld. So ist die Arbeitslosenquote auf 9,2 Prozent gesunken. Es ist gar nicht so lange her, dass sie in manchen ostdeutschen Landesteilen doppelt so hoch war. Im Westen ist der Wert mit 5,7 Prozent aber noch weit niedriger. Gleicke warnt deshalb trotz der Fortschritte davor, die rosarote Brille aufzusetzen. Die neuen Länder hätten nach wie vor einen erheblichen Aufholbedarf.

Fehlanzeige bei Großunternehmen und Konzernzentralen

Befürchtungen, die im Osten stärker als im Westen spürbare Abneigung gegenüber Ausländern könne sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken, sind indes nur eine mögliche Erklärung für ökonomische Nachteile. Denn auch ohne die Zuspitzung seit Beginn der Flüchtlingskrise leidet diese Region unter strukturellen Defiziten. Ein ernsthaftes Hemmnis für die Entwicklung der Wirtschaft sei die Kleinteiligkeit, sagt Gleicke. Das Fehlen von Großunternehmen und Konzernzentralen gehe einher mit Innovationsschwäche und einem deutlich geringeren Internationalisierungsgrad.

Demonstration für Willkommenskultur in Dresden.
Ein Herz für Flüchtlinge - auch das gehört zum Osten, hier in DresdenBild: Reuters/H. Hanschke

Wegen des im Osten stärkeren Bevölkerungsrückgangs und dem sich bereits abzeichnenden Fachkräftemangel sieht Gleicke in der Integration von Flüchtlingen aber auch Chancen. Sie halte es jedoch für blauäugig und schlicht falsch zu glauben, "das Problem der Massenabwanderung aus dem Osten ließe sich mit der Massenflucht aus den Krisengebieten lösen". Integration brauche Zeit, Geld und müsse vor Ort gelebt werden. Ziel müsse es sein, "dass Ostdeutschland für Flüchtlinge mit einer Bleibeperspektive zu einer neuen Heimat wird". Es gebe im Osten wie im Westen ein "großartiges Engagement" zur Unterstützung der Flüchtlinge. Dieses Bild sei durch die vielen Übergriffe von Neonazis, Rechtsextremisten und Ausländerfeinden überdeckt und verdunkelt worden.

Hoffnungsschimmer Digitalisierung und Erneuerbare Energien

Und welche Anreize gibt es sonst noch, um den Osten attraktiver zu machen? Gleicke nennt die Digitalisierung ländlicher Regionen. Wo zeit- und vor allem ortsunabhängiges Arbeiten möglich sei, ließen sich Leben und Arbeiten in neuer Form verbinden. Chancen bestünden auch im Bereich erneuerbarer Energien. Der Anteil von Unternehmen aus dieser Branche sei in Ostdeutschland besonders hoch. Das treffe auch auf die Nutzung erneuerbarer Energien zu. Das seien "echte Vorteile" für den Osten.

Andererseits ist diese Region stark vom Strukturwandel in den Braunkohle-Revieren betroffen. Durch die schrittweise Abkehr von den besonders umweltschädlichen fossilen Energieträgern gehen östlich der Elbe aber auch Arbeitsplätze verloren. Gestiegen seien hingegen die Löhne, die bei 97 Prozent des West-Niveaus lägen. Allerdings nur in Branchen mit Tarifbindung. Deshalb profitiert nur knapp die Hälfte der Arbeitnehmer von entsprechenden Verträgen, die zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften geschlossen wurden. Im Westen sind es immerhin 60 Prozent.