Die documenta 14: politischer denn je
8. Juni 2017Studenten haben die 20 riesigen Abwasserrohre, die ein Baukran vor dem Fridericianum gestapelt hat, wohnlich ausgestattet, mal als Badezimmer, mal als Schlafraum, mal als Hundezwinger. Doch bei der meterhohen Installation von Hiwa K vergeht einem schnell das Lachen. Denn der irakisch-kurdische Künstler setzt, obwohl er das Gegenteil behauptet, ein Ausrufezeichen: Sein Röhren-Hotel erinnert an Flüchtlinge, die wie er im Athener Hafen gestrandet sind und Schutz vor Wind und Wetter suchen.
Kaum weniger laut geht es zu im Untergeschoss der documenta-Halle, wo Guillermo Galindi die Fragmente von zwei zerborstenen Bootsrümpfen von der Decke baumeln lässt. Schnell wird klar, worum es auch dem mexikanischen Künstler geht: Er prangert Flucht und Vertreibung an, den Exodus Tausender, die am Ende qualvoll im Meer ertrinken.
Derlei hat documenta-Chef Adam Szymczyk im Sinn, wenn er dazu aufruft, sich in Zeiten von Flucht und Unsicherheit von überkommenen Gewissheiten zu lösen. "Wir glauben, dass wir das, was wir zu wissen scheinen, entlernen müssen", diktiert der künstlerische Leiter der documenta den Journalisten in die Notizblöcke. "Lernen muss das Arbeitsprinzip dieser documenta sein." Und Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung meint: "Wir leben in einem Zeitalter der Unsicherheit. Unsicherheit führt oft zu Gewalt." Er fordert die Künstler auf, "aufsässig" zu sein.
Kunst für eine Welt aus den Fugen
Und was hat die Kunst zu sagen, wenn die Welt aus den Fugen gerät? Wenn Neoliberalismus um sich greift, Nationalismus grassiert, neue Kriege ausbrechen, und wenn Politiker wie Trump, Erdogan oder Putin mit blanken Ellenbogen regieren, von der Terrorgefahr ganz zu schweigen? Welche Fragen stellt die Kunst.? Und welche Antworten liefert sie? So viel ist gewiss: Mehr als 160 Künstler legen sich in Kassel an rund 30 Ausstellungsorten ins Zeug. Die verteilen sich über das ganze Stadtgebiet. Wer sie entdecken will, braucht zunächst mal stabiles Schuhwerk.
Ausgehend vom zentral gelegenen Museum Fridericianum, in dem zur Zeit die Sammlung des Athener Nationalmuseums für Zeitgenössische Kunst (EMST) gastiert, erstreckt sich die Weltkunstschau über Museen, Plätze und Parks. Auch ein Kino, eine Unterführung und Hallen auf dem Uni-Gelände wurden zu Kunstorten, nicht zu vergessen die ehemalige Hauptpost in der Nordstadt, einem Problembezirk Kassels.
"Beeing safe is scary"
Über dem Portal des Fridericianums hat Banu Cennetoglu eine neue Inschrift anbringen lassen. "Museum Fridericianum" ersetzte die türkische Künstlerin durch: "Beeing Safe is scary" (zu Deutsch: Sicher zu sein, ist beängstigend"), was an die ehemalige kurdische Journalistin und Freiheitskämpferin Gurbetelli Ersöz erinnern soll.
Mit verbotenen Büchern hat auch der benachbarte, monumentale Nachbau des Akropolis-Tempels zu tun. Die Stahlgerüstsäulen des "Parthenon of books" sind aber nicht mit Steinen verkleidet, sondern mit Tausenden von Büchern. Die Herzen des Kasseler Publikums hat die Argentinierin Marta Minujín im Sturm erobert. Ihr Bau ist das wohl meistfotografierte Kunstwerk der Stadt.
Kunstrauch - besorgte Kasseler riefen die Feuerwehr
Für Irritation sorgt dagegen diese Kunstaktion: Seit dem documenta-Start in Athen lässt der rumänische Künstler Daniel Knorr weißen Rauch vom ehrwürdigen Zwehrenturm des Fridericianums aufsteigen. Fünf Rauchmaschinen, wie sie sonst die Feuerwehr einsetzt, qualmen nun für das "Expiration Movement". Rauch, so Knorr, ist Kommunikationsmittel. Sei es nach erfolgreicher Papstwahl oder bei den Bücherverbrennungen durch die Nazis. Die Zahl der Anrufe besorgter Kasseler Bürger bei der Feuerwehr ist indes, wie man hört, wieder rückläufig.
Nicht immer sind die Botschaften so eindeutig. Manche Kunstwerke erzählen lange, komplexe Geschichten. Da ist die isländische Künstlerin Britta Marakatt-Labba, die mit Wolle ein historisches Panorama der Volksgruppe der Samen gestickt hat. Die Vertreibung aus dem Paradies als ein poetisches, auch handwerklich beeindruckendes Werk. Ganz anders der Australier Gordon Hookey: Zwar protestiert auch er, der dem Volk der Waanyi angehört, gegen Unterdrückung und Ausbeutung im Kolonialismus. Doch setzt er mit seinem haushohen und vor bunten Farben schreienden Wandbild "Murriland" im alten Postgebäude der Nordstadt ein deutlich lauteres Statement.
Performance und Film haben Konjunktur
Was auffällt: Bilder und Skulpturen sind seltener geworden auf der documenta. Stattdessen rücken Performances und Aktionskunst ins Blickfeld, immer häufiger nehmen Mischformen aus Film, Installation und Dokumentarmaterial Augen und Ohren in Beschlag. Ein Beispiel liefert die 91 Jahre alte rumänische Künstlerin Geta Bratescu. Ihre kurze Filmsequenz "Automatism" zeigt einen Mann, der wiederholt mit dem Messer eine Leinwand aufschlitzt. Als statt der Leinwand plötzlich ein Mensch vor ihm steht, sticht der Mann erneut zu.
Mitten ins Herz der Einwanderungsgesellschaft treffen die Fotografien der Palästinenserin Ahlam Shibli. "Heimat" zeigt das Leben von vertriebenen Deutschen aus Osteuropa neben dem von Gastarbeitern aus dem Mittelmeerraum. Es sind Bilder vom Aufbrechen und Ankommen. Der Ausgang bleibt ungewiss. Gleiches gilt für die historische Erkundung Berlins, auf die der Thailänder Arin Rungjang die Protagonisten seines Films "And then there were none" schickt.
Der US-amerikanische Filmemacher Ben Russell schließlich lädt in die stockdusteren Katakomben des Fridericianums ein, wo er Betrachtern seiner dokumentarischen Film-Installation "Good Luck" Einblicke in die Welt von hart arbeitenden Männern in einer serbischen Kupfermine und einem Goldschürfer-Camp im südamerikanischen Dschungel gibt. Ein Schelm, wer dabei Fluchtgedanken hegt oder wem der Obelisk des US-Künstlers Olu Oguibe in den Sinn kommt: Mehr als 16 Meter hoch ragt sein Kunstwerk über dem Königsplatz. In goldenen Lettern steht darauf: "I was a stranger – and you took me in." - "Ich war ein Fremder, und ihr habt mich aufgenommen."
Wenn an diesem Samstag (10.06.2017) der Besucheransturm auf die documenta 14einsetzt, könnte er alle Rekorde brechen, glaubt Kassels Oberbürgermeister Bertram Hilgen. Zwei Monate nach dem Startschuss in Athen sind allein 2000 Journalisten nach Kassel gereist. Die letzte documenta zählte bereits 860.000 zahlende Besucher. Diesmal möchte man die Eine-Million-Marke knacken - mit der politischsten Weltkunstschau seit langem. "Diese Ausstellung zeigt eine Rebellion auf dem Museumsbauernhof", sagt Kurator Paul B. Preciado in Anspielung auf Georg Orwells "Farm der Tiere".