Die chinesische Kulturrevolution und Tibet
10. Mai 2016"Was war das Ziel dieser sogenannten Revolution? Es bestand darin, den Neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft zu schaffen. Und der kulturelle Teil der Kulturrevolution, die geistige Revolution, wurde unter anderem mit der Formel umschrieben: Bekämpfe die 'vier Relikte', das heißt alte Kultur, alte Sitten, alte Gewohnheiten und alte Denkweisen. Und das ist besonders radikal in Tibet geschehen, mit seiner tausendjährigen mittelalterlichen Kultur, einer Mönchskultur, die für einen Chinesen doppelt unverständlich war." So beschreibt der Sinologe Oskar Weggel gegenüber der DW das Zusammentreffen der sogenannten "großen proletarischen Kulturrevolution" mit Tibet.
Allerdings: Schon vor dem Beginn der Kulturrevolution im Sommer 1966, als die sogenannten Roten Garden, die aus Schulen und Universitäten rekrutiert worden waren, und die "Rebellen" aus den Industriebetrieben in vielen Teilen Chinas die Verwaltungen übernahmen, Vorgesetzte zu "Geständnissen" zwangen, "Kommunen" gründeten, und mit "bürgerlichem" bzw. "abergläubischem" Zierrat aufräumten, war die Kultur Tibets weitgehend von den chinesischen Besatzern zerstört worden.
"In der Zeit nach 1959 (dem tibetischen Aufstand und der Flucht des Dalai Lama, Anm. d. Red.) wurden die traditionellen Strukturen Tibets gewaltsam beseitigt", schreibt der Sinologe Thomas Heberer. "Die tibetische Elite und die Kläster als der Grundpfeiler der tibetischen Kultur wurden vernichtet. Mit der Zerstörung von 2690 bedeutenderen Klöstern von insgesamt 2700 verschwanden praktisch alle Bildungs-, Kultur- und Religionsinstitutionen Tibets."
Wiederaufbau nach der Kulturrevolution sehr begrenzt
Dieses Zerstörungswerk lastet die chinesische Führung heute ausschließlich der Kulturrevolution an, die laut Weggel "als absolute Perversion verurteilt wird, die mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurde und sich nie mehr wiederholen darf." Aber damit betreibe die heutige KP-Führung Augenwischerei, wie Tsewang Norbu, Exil-Tibeter und Mitbegründer des Vereins Tibet Initive Deutschland, gegenüber der DW erläutert: "Auf der Pressekonferenz in Lhasa nach dem Besuch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl 1987 hat der stellvertretende Regierungschef der Autonomen Region Tibet erstmals offiziell zugegeben, dass fast 90 Prozent der Zerstörungen in Tibet lange vor Beginn der Kulturrevolution stattgefunden hatten. Die Kulturrevolution gab Tibet lediglich den Todesstoß. Dies spiegelt sich auch in der Wiederaufbaupolitik der neuen chinesischen Führung nach Ende der Kulturrevolution wider, denn nur jene zerstörten Klöster bekamen die offizielle Genehmigung zum Wiederaufbau oder staatliche Unterstützung, die nicht vor, sondern während der Kulturrevolution zerstört worden waren, also nur die allerwenigsten."
Gesellschaftliche Spannungen
Wie Tsewang Norbu gegenüber der DW ausführt, war die Fortsetzung der Zerstörung aber nur eine Seite der Kulturrevolution in Tibet: Die andere Seite bestand in einer Art Befreiungswirkung für junge Tibeter: "In den 90er Jahren traf ich in Dharamsala (In der nordindischen Stadt fand der Dalai Lama Zuflucht. Hier ist der Sitz der exil-tibetischen Regierung. Anm. d. Red.) einige Tibeter, die einst Rotgardisten gewesen waren. Einer fiel mir besonders auf, weil er unheimlich eloquent und redegewandt war, wie viele Studentenführer der 68er Zeit in Deutschland. Von ihm erfuhr ich, dass während der Kulturrevolution junge Tibeter als Rotgardisten erstmals das Gefühl hatten, von Chinesen ernst genommen und gleichberechtigt behandelt zu werden. Für manche talentierten Tibeter war dies eine sehr gute Gelegenheit, ihre Redekunst zu schärfen. Für andere Tibeter boten die Fraktionskämpfe im weiteren Verlauf der Kulturrevolution gute Gelegenheiten, Chinesen im gegnerischen Lager gezielt anzugreifen, um ihrem Frust über Diskriminierung und Erniederung als Tibeter Luft zu verschaffen."
Der Sinologe Weggel bestätigt Norbus Erinnerung an die früheren Rotgardisten: "Die Hauptgruppen, die in Tibet diesen Kampf getragen haben, bestanden nicht nur aus Leuten, die aus dem Tiefland kamen, aus Peking, Shanghai oder Chengdu, sondern sie bestanden sogar hauptsächlich aus Schülern tibetischer Herkunft." Im Rahmen der sogenannten sozialistischen Erziehungsbewegung sei die Grundlage für den gemeinsamen Kampf von Studenten aus Tibet und aus dem Tiefland gegen die Mönchskultur gelegt worden.
Zwischen Bevölkerung und Mönchtum habe es durchaus Spannungen gegeben, erläutert Weggel. Die maoistische Revolution habe natürlich gerade diese Spannungen herauszuarbeiten und zu betonen versucht. "Die Maoisten sagten, dass die Hauptunterdrücker nicht die Ausländer waren, sondern die eigenen Klöster. Sie untermauerten das sogar mit Ausstellungen, wo Quälereien durch die Mönche in drastischer Art und Weise dargestellt wurden. Man hatte gehofft, dass das Volk sich gegen die Klöster erhebt und dass daraus die große Wut entsteht. Aber in Wirklichkeit war diese große Wut beschränkt auf die jungen Rotgardisten."
Begeisterung für Mao im Westen
Tsewang Norbu hatte den Ausbruch der Kulturrevolution als Schüler im nordindischen Exil erlebt, beziehungsweise nicht erlebt, denn die Informationsquellen waren sehr spärlich. "Samstagabends gab es Aufklärungsstunde für etwa 600 Schülerinnen und Schüler. Ein Lehrer las laut Berichte aus der Wochenzeitung vor. Hin und wieder konnten wir einen kurzen Blick hineinwerfen und konnten Zeichnungen von 'Kritik- oder Kampfversammlungen' sehen, bei denen den angeklagten Lehrern Papierhüte aufgesetzt und Parolen angeklebt wurden. Viel mehr hatten wir damals von der Kulturrevolution nicht mitbekommen."
Das änderte sich 1969, als Tsewang Norbu an die Universität von Neu Delhi ging. Aber es herrschte aus seiner Sicht eine Art Realitätsverweigerung: "An der Uni war der Mao-Kult in vollem Gang. Wie viele Universitäten in aller Welt war auch die Universität von Neu Delhi von der Welle der Mao-Begeisterung völlig erfasst worden. Wer die Greueltaten der Rotgadisten kritisch betrachtete oder sich gar dagegen aussprach, wurde als Bourgeois gebrandmarkt oder als Handlanger der Imperialisten oder als CIA-Agent beschimpft", erzählt Norbu gegenüber der DW.
Ganz ähnlich erlebte er es 1973 in Deutschland. "An der Universität in Frankfurt war die Mao-Begeisterung immer noch sehr stark. Als Tibeter, der allmählich eine ganz andere Sichtweise zu China und vor allem zur Kulturrevolution entwickelte, war das Leben an der Uni alles andere als leicht. Hinzu kam noch die Ho-Chi-Minh-Welle, so dass man den Eindruck hatte, dass viele Studenten ihre Befähigung zu Vernunft und kritischem Denken ganz verloren hatten. Es herrschte eine blinde Verherrlichung des großen Vorsitzenden Mao und des netten Onkels Ho", so die Erinnerung des Exil-Tibeters.
Kann Peking seine Tibet-Politik überdenken?
Doch viele der damals von Mao Begeisterten hätten sich aus ihrer Verblendung befreit, sagt Norbu. Nach der Öffnung Tibets Anfang der 1980er Jahre hätten sie Tibet besucht oder zumindest Berichte in Wort und Bild über die wahren Zustände in Tibet gesehen und gelesen. "Jene liberalen Personen aus dem linken Spektrum der Gesellschaft im Westen vollzogen somit eine Kehrtwendung und initiierten Ende der 80er Jahren nach und nach die weltweite Solidaritätsbewegung für Tibet."
Letztere finde jedoch in der großen Politik nach dem Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Weltmacht inzwischen nicht mehr so viel Resonanz wie früher. Im Endeffekt komme es auf China an, was auch Tsewang Norbu weiß: "Für die Versöhnung des tibetischen mit dem chinesischen Volk reicht es nicht aus, dass Beijing sich von der Kulturrevolution distanziert und seine verfehlte Tibetpolitik nur den Exzessen der Kulturrevolution anlastet. 50 Jahre nach Beginn der Kulturrevolution wäre jetzt ein guter Anlass für Beijing, seine Invasion und Besatzung Tibets gründlich zu überdenken und durch eine versöhnliche Tibetpolitik zu ersetzen."
Für China-Kenner Weggel wird das aber so schnell nicht passieren: "Nur wenn sich auch in China selbst die Demokratisierungsbewegung durchsetzt, könnte es sein, dass man die Verfassung etwas ernster nimmt und die Autonomierechte Tibets mehr beachtet. Dann wäre Tibet gerettet, wenn es bis dahin nicht völlig sinisiert und von Zuwanderern überschwemmt ist."