Deutsches Kino: "Die Berliner Schule"
5. März 2010Als Mitte der 90er Jahre deutsche Beziehungskomödien die Kinos eroberten, gab es dazu eine Gegenbewegung, die als "Berliner Schule" bekannt wurde. Dahinter stehen Filmemacher wie Christian Petzold, Angela Schanelec oder auch Benjamin Heisenberg, die alle in der deutschen Hauptstadt leben. Sie suchten nicht das große Publikum, sondern orientierten sich eher am deutschen Autorenfilm der 70er Jahre. In den letzten Jahren haben ihre Filme vornehmlich Geschichten aus dem Alltag erzählt, in denen es keine Helden gibt. Mit Heisenbergs neuem Film "Der Räuber", der im Berlinale-Wettbewerb lief und jetzt in die Kinos kommt, verändert sich dieses Bild.
Ohne klares Ziel, aber voller Sehnsucht
Die Filme der "Berliner Schule" sorgten für Furore auf Festivals in Cannes, Berlin und anderswo. Und im Magazin "Revolver" erläuterten die Macher ihr Filmverständnis. Fern vom Sensationellen und Melodramatischen ging es ihnen um die nüchterne Abbildung der Realität und um die Normalität des Alltags. Sie, das sind Regisseure wie Christian Petzold, der 2001 mit "Die innere Sicherheit" den Deutschen Filmpreis gewann. Auch Angela Schanelec, die nicht nur in ihrem Film "Marseille" in langen Einstellungen beobachtet, wie Leute einfach zusammensitzen oder mit einem langsamen Kameraschwenk die Atmosphäre einer Stadt einfängt. Protagonisten, die mit den Mühen des Alltags kämpfen, Passagiere ohne klares Ziel, aber voller Sehnsucht, jegliche Form von Heldentum – Fehlanzeige. Das zeichnet die Filme der "Berliner Schule" aus.
Unter diesem Motto hatten Christoph Hochhäusler, Sebastian Kutzli und Benjamin Heisenberg 1998 die Filmzeitschrift "Revolver" gegründet. Benjamin Heisenberg: "Uns hat die Macher-Perspektive gefehlt. Wir waren in der Filmhochschule in München und fragen uns: ´Wie entstehen Filme? Warum machen Leute Filme? Was sind ihre persönlichen Hintergründe? Aus welcher handwerklichen Tradition kommen sie?´ Diese Fragen wurden in anderen Filmzeitschriften gar nicht diskutiert."
Eine Welt voller Rätsel
Radikaler formulierte Christoph Hochhäusler in der ersten Ausgabe des Magazins seinen Generalangriff auf den damaligen Deutschen Film: "Kino muss geheimnisvoll, verführerisch, verwegen – Kino muss gefährlich sein. Aber selbst der Mist, den unser Kleinvieh (Schlingensief) macht, ist erstaunlich flau. Zahnloses Deutschland… Leblose Figuren nach populistischem Kalkül hinterlassen keine Spuren."
Hochhäuslers Debütfilm "Milchwald" handelt von zwei deutschen Kindern, die von ihrer Stiefmutter in Polen ausgesetzt werden und dort durch den Wald irren. In gewisser Weise steht der Film exemplarisch für die "Berliner Schule": Fernab von allen TV-Produktionsmustern glauben die Macher nicht daran, dass man immer alle Entscheidungen der Menschen im Sinne von Ursache und Wirkung nachvollziehen kann. Vielmehr sind sie fasziniert von einer Welt voller Rätsel.
Irgendwie den Anschluss verloren
In den Jahre 2003 und 2004 waren Benjamin Heisenberg und Christoph Hochhäusler nach Berlin gezogen. An die Spree kamen auch Valeska Grisebach und Nicolas Wackerbarth, Ulrich Köhler und Henner Winckler, Birgit Groskopf und Jens Börner. Sie alle zählen heute zu den Vertretern der "Berliner Schule" und arbeiten oft gemeinsam an Filmprojekten.
Auch bei den Themen ihrer Filme gibt es viele Gemeinsamkeiten: Immer wieder geht es um Menschen, die irgendwie den Anschluss verloren haben oder im Begriff sind, ihn zu verlieren: Sei es den familiären, den zu Freunden oder zur Gesellschaft insgesamt. Man könnte auch von Außenseitern sprechen, aber dieser Begriff wäre zu allgemein und trifft auch auf viele andere Filme zu.
Das Spektrum erweitert
Bei den Filmen der "Berliner Schule" geraten die Protagonisten in ein abstraktes Abseits, eine Art Vakuum, teils selbst gewählt, teils durch äußere Umstände. Und auch mit der Liebe sieht es schlecht aus. Eine Ausnahme bot bisher nur Valeska Grisebach, die in "Sehnsucht" (Berlinale-Wettbewerb 2006) von einer erfüllten Liebe erzählt. In das Muster vom gesellschaftlichem Abseits passt ebenso "Der Räuber" von Benjamin Heisenberg, der jetzt in den Kinos gestatert ist. Heisenberg machte vor ein paar Jahren mit seinem Film "Schläfer" auf sich aufmerksam, die Geschichte eines vermeintlichen Terroristen in Deutschland. Der Film lief auf den Festspielen in Cannes und gewann in Deutschland den "First Steps Award".
Zugegen, auch "Der Räuber", namentlich Johann Rettenberger, der Ende der 80er Jahre durch Marathonläufe Österreich in Verzückung und durch Banküberfälle in Panik versetzte, ist ein individueller Charakter. Aber zugleich ist der Film auch eine große Inszenierung, mit vielen Darstellern und Statisten. In diesem Sinne verändert und erweitert "Der Räuber" das Spektrum der "Berliner Schule".
Internationale Anerkennung
Anerkennung erhält die "Berliner Schule" aber nicht nur aus deutschen Kritikerkreisen, sondern auch im Ausland. Besonders in Frankreich, wo die Journalisten oft den Begriff "Nouvelle Vague Allemande" benutzen. Bei den Festspielen in Cannes sind bereits Werke der meisten Vertreter der "Berliner Schule" gelaufen. Und französische Verleiher haben unter diesem "Gütesiegel" bereits drei Filmreihen in die französischen Kinos gebracht. Benjamin Heisenberg: "Dieses Label hat besser geklappt, als wir uns das alle gedacht haben. Christoph Hochhäusler und ich haben uns, als unsere ersten Filme in Cannes liefen, mal unterhalten, ob man nicht eine große Pressekonferenz machen sollte. Unter dem Motto: ´Es gibt eine neue Tendenz im Deutschen Film…!´ Das hat von den anderen keine Zustimmung bekommen." Dennoch ist die Botschaft bekannt. Inzwischen wurden unter dem Begriff "Berliner Schule" Filmreihen in den USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich und in China gezeigt.
Autor: Bernd Sobolla
Redaktion: Jochen Kürten