Wo bitte geht's zur Berliner Mauer?
8. Oktober 2019Die Berliner Mauer, das greifbarste Symbol des Kalten Kriegs, fiel vor 30 Jahren, am 9. November 1989. Vier Jahre später bin ich geboren, mehrere 1000 Kilometer entfernt im Mittleren Westen von Amerika. In eine Welt, die nicht mehr durch den Eisernen Vorhang geteilt war. Ich ahnte nicht, dass ich irgendwann einmal selbst in Berlin leben würde. Nicht mehr ganz neu in der deutschen Hauptstadt finde ich es nun an der Zeit, mehr über die komplizierte Geschichte meiner jetzigen Heimat zu lernen.
Geschichte direkt vor meiner Haustür
Ich wohne nahe der Bernauer Straße, wo eines der wenigen originalen Mauerstücke die Zeit überdauert hat. Jeden Morgen passiere ich die einstige Grenze, wenn ich zu meinem Lieblingscafé gehe. Nur noch eine Reihe von Pflastersteinen im Boden markiert ihren einstigen Verlauf auf Straße und Gehweg. Es ist nahezu unmöglich, ihre historische Bedeutung nicht zu spüren. In Sichtweite erinnern Bilder in einem überdimensionalen Fotorahmen an diejenigen, die bei der Flucht über die Grenzanlagen des DDR-Regimes von Ost nach West-Berlin starben. Insgesamt kostete die Mauer mindestens 140 Menschen das Leben. Mein Weg führt weiter über Metallplatten im Boden. Sie markieren Stellen, an denen Fluchtversuche scheiterten oder Menschen ihre Häuser wegen des Mauerbaus zwangsräumen mussten; aber auch, wo die Flucht aus der DDR etwa über Fluchttunnel gelang. Dann passiere ich eine Reihe rostiger Stahlstäbe, die den Mauerverlauf im Straßenbild sichtbar machen. All das gehört zur Gedenkstätte Berliner Mauer.
Diese Gedenkstätte an der Bernauer Straße ist denen gewidmet, die ihr Leben an der Mauer verloren haben. Gleichzeitig will sie Besucher über das Thema informieren. Für mich ist der fünfstöckige Beobachtungsturm der hilfreichste Teil, um all das zu verstehen. Nach dem Aufstieg sehen Besucher von oben auf ein kleines Stück nachgebauten Grenzstreifen am originalen Ort. Früher habe ich mir die Berliner Mauer immer als eine normale Mauer vorgestellt. Dieser Nachbau aber hilft mir zu verstehen, dass die Mauer letzten Endes nicht eine Mauer war, sondern aus zwei parallelen Betonmauern bestand, zwischen denen der so genannte "Todesstreifen" verlief. Er war zwischen 15 und mehr als 150 Meter breit, mit Sperrsystemen gespickt und von bewaffneten Grenzsoldaten bewacht. Sie waren jederzeit bereit auf denjenigen zu schießen, der sich im "Todesstreifen" zwischen den beiden Mauern befand.
Den Weg zur Freiheit gegraben
Die Erinnerungstafeln an die Fluchttunnel, die allein an der Bernauer Straße die Grenzsperranlagen insgesamt siebenmal untertunnelten, haben meine Neugier geweckt. Um mehr darüber zu erfahren, besuche ich die Berliner Unterwelten. Die Führung heißt "Unter der Berliner Mauer". Zunächst bin ich beunruhigt, ob "Unterwelten" nicht eher etwas für Freunde des Makabren und des Grusels sind. Wird die Tour geschmacklos werden - oder gar respektlos? Als die Führung beginnt, merke ich schnell, dass ich dem Ganzen Unrecht getan habe. Mit der Gruppe klettere ich in das kühle, feuchte Museum unter der Erde. Ich kann die Verzweiflung fast fühlen, die Flüchtende gehabt haben müssen und lausche den Geschichten, die unser enthusiastischer, gut informierter Guide erzählt. Fotoausstellungen und lebensgroße Modelle veranschaulichen, wie die Tunnel gebaut wurden. Ich staune, dass der erfolgreichste und berühmteste Tunnel nur einen Block entfernt von meiner Wohnung gegraben wurde. Und überlege, wie ich reagiert hätte, wenn plötzlich Flüchtlinge aus Ost-Deutschland auf ihrem Weg in den Westen in meinem Keller gestanden hätten. Immerhin gelangten über 300 DDR-Bürger zwischen 1961 und 1984 auf diesem Weg von Ost- nach West-Berlin.
Ein undurchdringliches Tor und weiße Kreuze
Mit der S-Bahn fahre ich weiter zu einem anderen "Mauerort": Das Brandenburger Tor ist wohl das bekannteste Wahrzeichen Berlins. Aber jetzt bin ich hier, um über das Tor als Symbol der deutschen Wiedervereinigung nachzudenken. Ich war tatsächlich ziemlich geschockt zu erfahren, dass dieses großartige Monument aus dem 18. Jahrhundert, das wirklich ein Wahrzeichen für Deutschland ist, damals in Ost-Berlin im "Todesstreifen" lag. Ich setze mich kurz auf eine Bank, um die Leute zu beobachten, die fröhlich vorbeispazieren und beschwöre die Bilder herauf von lächelnden Menschen auf der Mauer in der Nacht des 9. Novembers 1989, der Nacht des Mauerfalls.
Von hier aus ist es nur ein Katzensprung zum Reichstagsgebäude, das bis 1989 im Schatten der Mauer auf West-Berliner Seite lag und in dem heute der Deutsche Bundestag tagt. Vom Reichstag bis zum nahen Spree-Ufer stehen weiße Kreuze mit Namen, Geburts- und Todesdaten. Denn auch über die Spree, an der die Grenze verlief, hatten Menschen versucht, West-Berlin zu erreichen. Es macht mich traurig, die Namen derjenigen zu lesen, die in den 1980er-Jahren dafür mit dem Leben bezahlten. Verzweifelte Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - ihr Leben für die Flucht aus der DDR riskierten. Sie konnten ja nicht ahnen, dass ihr Alptraum bald enden würde.
Der Bruderkuss
Nur ein paar Kilometer Spree aufwärts halten die Reste der Berliner Mauer an der East Side Gallery vielleicht eine hoffnungsvollere Geschichte für mich bereit. Als ich zum ersten Mal von der East Side Gallery hörte, ging ich davon aus, dass es sich um eine anspruchsvolle Kunstgalerie mit teuren Gemälden handelte. Tatsächlich ist sie das längste erhaltene Stück Hinterlandmauer, die Friedrichshain im Osten von Kreuzberg im Westen trennte. Nach dem Mauerfall 1989 wurden 118 Künstler aus 21 Ländern eingeladen, Teile des 1,3 Kilometer langen Betonbandes zu bemalen. Viele Arbeiten enthielten politische Kommentare. Am bekanntesten ist der "Bruderkuss": Es zeigt das ehemalige sowjetische Staatsoberhaupt Leonid Iljitsch Breschnew und den ostdeutschen Staatschef Erich Honecker, die sich in brüderlicher Umarmung küssen - ein besonderer Gruß zwischen sozialistischen Staatsmännern. Das Gemälde von Dmitri Vrubel repliziert ein Foto, das 1979 anlässlich des 30-jährigen Bestehens der DDR aufgenommen wurde. Ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob die Leute, die heute für Selfies vor ihm posieren, wissen, wer diese Männer sind und warum sie sich küssen.
Checkpoint Charlie
Ein letzter Ort steht auf meiner Liste der Mauerorte: Checkpoint Charlie. Heute türmen sich an dem kitschigen Fotopunkt für Touristen Sandsäcke vor einer hölzernen, weißen Kontrollbaracke mit der Aufschrift U.S. Army Checkpoint. Während der Teilung der Stadt war Checkpoint Charlie einer von acht innerstädtischen Grenzübergängen. Allerdings passierten hier Ausländer, Militärangehörige und Diplomaten die Grenze, nicht der reguläre Reise- und Besuchsverkehr. Das erste, was mir auffällt, als ich diesen symbolischen Ort des Kalten Kriegs erreiche, ist das riesige Bild eines amerikanischen Soldaten, der mit leerem Gesicht in die Kamera starrt. Auf der anderen Seite ist ein ähnliches Porträt eines sowjetischen Soldaten zu sehen. Rundherum ein McDonald's, Souvenirläden, mehrere Cafés. Als ich auf die kleine nachgebildete Kontrollkabine zugehe, stolperte ich ein paar Mal über Männer, die ahnungslose Touristen beim "Hütchenspiel" betrügen. Schon überwältigt mich das Ganze, ich fühle mich ein wenig unwohl dabei, weil es sich billig anfühlt im Vergleich zu den anderen Orten, an denen ich bisher war. Trotzdem kaufe ich mir ein Ticket für das "Mauermuseum" und gehe hinein. Obwohl das Museum einige interessante Informationen und Ausstellungsstücke bereithält, scheinen sie von oben bis unten zufällig angeordnet. Ich kann gar nicht sagen, worum es in der Ausstellung geht und gehe verwirrter raus als ich reinging.
Trotz der Enttäuschung an diesem allerletzten Ort gehe ich mit dem guten Gefühl nach Hause, an einem historisch bedeutsamen Platz zu leben. Ich finde, dass alle, die mehr wissen wollen - über die Berliner Mauer, die Teilung, die DDR und den Kalten Krieg - in Berlin dazu viele authentische Orte finden. Und hoffe, dass meine Generation, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls noch gar nicht geboren war, sich die Zeit nehmen wird, mehr über die vielschichtige Geschichte der Stadt zu lernen.