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Die Akte Eichmann

Sarah Judith Hofmann3. September 2013

Es ist ein Skandal: Erst 68 Jahre nach Kriegsende darf ein Historiker die vollständige Akte Adolf Eichmanns studieren. Offenbar hatte der BND Interesse, die Fluchtgeschichte des Naziverbrechers geheim zu halten.

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Gefälschter Pass von Adolf Eichmann (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Im Archiv des Bundesnachrichtendienstes (BND) lagern unzählige Akten – auch aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals hieß der deutsche Auslandsgeheimdienst noch nicht BND, sondern Organisation Gehlen, benannt nach dem ersten Chef der Behörde und ehemaligen Nationalsozialisten Reinhard Gehlen. Eine dieser Akten ist besonders prominent. Angelegt wurde sie über den Mann, der für die Deportation und Ermordung von Millionen Juden verantwortlich war und dem 1961 in Israel der Prozess gemacht wurde: Adolf Eichmann. Die Akte umfasst mehrere tausend Seiten. Was genau darin steht, soll jetzt endlich ans Licht kommen.

Holger Meding ist derzeit der Einzige, der Zugang zu der vollständigen Akte Eichmann beim deutschen Auslandsgeheimdienst hat. Denn er ist Mitglied der Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes zwischen 1945 und 1968. Holger Meding ist seit Kurzem zuständig für all jene Akten, die im Zusammenhang mit Lateinamerika und insbesondere Argentinien stehen. Genau dahin floh Eichmann – und neben ihm viele andere ehemals hochrangige Nazis.

Wie aber kann es sein, dass diese Geschichte erst jetzt aufgearbeitet wird? Vielleicht liegt es an der komplizierten Gesetzeslage in Deutschland, dass man auf Einsicht in Bundesakten klagen muss. Und der erste, der dies getan hat, war nicht Meding, sondern ausgerechnet der Journalist einer deutschen Boulevardzeitung. Er klagte erstmals im Jahr 2010 und erhielt Einblick in mehr als 3000 Seiten geheimer Dokumente des deutschen Auslandsgeheimdienstes. Allein, dies waren nicht die gesamten Akten, mehrere tausend Seiten wurden ihm nicht ausgehändigt, mehrere hundert waren geschwärzt. Also wandte er sich erneut mit einer Klage ans Bundesverwaltungsgericht in Leipzig – und wurde nun abgewiesen. Erst dann - und vermutlich daraufhin - wurde Holger Meding in die Historikerkommission berufen. Dass er seit Kurzem vollständige Akteneinsicht hat, sagt Meding erstmals in einem Interview mit der Deutschen Welle.

Eichmann vor Gericht in Jerusalem (Foto: AP/dapd)
Dieses Bild ging um die Welt: Eichmann während seines Prozesses in Israel 1961Bild: dapd

Er habe bislang bei Weitem nicht alle Dokumente studieren können, sagt Meding. Schließlich handele es sich um tausende Seiten. Aber schon jetzt weiß er: "Es wird herauskommen, inwiefern der BND aktiv war in Argentinien, welche Kontakte er gehabt hat und welche Personen involviert waren." Brisantes Material also, bei dem es erstaunt, dass es erstmals im Jahr 2013 von einem Historiker studiert werden darf und der Öffentlichkeit immer noch vorenthalten bleibt.

Eine Akte voller Schwärzungen

Für Holger Meding besitzt das Urteil des Leipziger Gerichts dennoch "eine gewisse Stringenz". Schließlich gehe der BND mit der Historikerkommission einen möglichen Weg. Diese könne alle Dokumente erforschen und somit in einen Zusammenhang stellen. Die Philosophin Bettina Stangneth sieht das anders. Sie hat für die Verhandlung in Leipzig ein Expertengutachten verfasst und kennt die Akte Eichmann – allerdings nur mit Schwärzungen.

2011 veröffentlichte sie das Buch "Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders", in dem sie Informationen über Eichmanns Leben zwischen 1945 und 1961 aus weltweiten Archiven zusammenführt. Ihre Erkenntnis: Eichmann war kein stiller Bürokrat eines mörderischen Systems. Er war ein überzeugter Nazi und Antisemit – und blieb dies auch bis zu seiner Hinrichtung in Israel 1962.

Adolf Eichmann in SS-Uniform (Foto: k.a.)
Organisator des Holocaust: Adolf Eichmann in SS-UniformBild: AP

Dass immer noch Akten über diesen Mann zurückgehalten werden, ist für Bettina Stangneth ein Skandal. "Natürlich gibt es Schwärzungen, die gemacht werden müssen, wie bei personenbezogenen Daten Dritter." Das akzeptiere sie. In der bisher auf Klage freigegebenen BND-Akte über Eichmann seien die Schwärzungen aber von solch einem Ausmaß, dass man sie nicht akzeptieren könne. "Ich frage mich, was dem Ansehen Deutschlands mehr schadet, die öffentliche Diskussion über fünfzig Jahre alte Aktivitäten des BND im Umgang mit Nazi-Altlasten oder diese Geheimnistuerei?" Das Bundeskanzleramt, dem der BND unterstellt ist, hatte erklärt, es könne die Akten nicht herausgeben, dies würde "dem Wohl des Bundes Nachteile bereiten".

Eichmann konnte 16 Jahre lang ein unbehelligtes Leben führen

Bei der Diskussion um die geschwärzten Stellen in der Eichmann-Akte geht es auch um die Frage, was deutsche Behörden eigentlich zu verbergen haben. "Man könnte natürlich fragen, ob es etwas gibt, das noch aktuell Probleme bereitet", meint Bettina Stangneth. Vieles über die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes ist bereits in den letzten Jahren bekannt geworden. "Es ist keineswegs verschwörungstheoretisch, dass es personelle Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus gab", sagt Holger Meding.

Einige Männer, die später die Organisation Gehlen und dann den BND aufbauten, waren zuvor im Reichssicherheitshauptamt tätig. Die Historikerkommission ermittelt zur Zeit die präzise Zahl und Biografien der vorbelasteten Personen. "Fest steht bislang, dass es einige waren", sagt Holger Meding, "möglicherweise sogar viele". Das Reichssicherheitshauptamt war die Terrorzentrale des "Dritten Reichs". Hier organisierten Bürokraten den Holocaust. Das Referat für "Juden- und Räumungsangelegenheiten" leitete Adolf Eichmann.

Adolf Eichmann in Argentinien (Foto: k.a.)
Adolf Eichmann lebte bis zu seiner Festnahme durch den israelischen Geheimdienst unbehelligt in ArgentinienBild: picture-alliance/akg-images/IMS

Es erscheint also naheliegend, dass Eichmanns ehemalige Kameraden es mit der Suche nach ihm nicht allzu genau nahmen, oder sie bewusst boykottierten. Die Einsicht in die Akte Eichmann hat bereits jetzt – in geschwärzter Version – weiteren Aufschluss geben können. So wusste die Organisation Gehlen als Vorgängerin des BND bereits 1952, dass Eichmann sich in Argentinien aufhielt. Dass der BND zum Zeitpunkt, als der israelische Geheimdienst Mossad ihn aus Buenos Aires entführte, über dessen Aufenthaltsort Bescheid wusste, wurde schon länger vermutet. "Aber dass der Bundesnachrichtendienst das schon so früh wusste, das hat auch mich überrascht", sagt Holger Meding. Israel konnte Eichmann erst 1961 vor Gericht bringen.

Der "Schlächter von Lyon" erhielt Gehaltsschecks vom BND

Die ungeschwärzten Akten – darin sind sich Holger Meding und Bettina Stangneth einig – werden noch sehr viel genauer darüber Aufschluss geben können, was der BND über ehemalige hochrangige SS-Mitglieder und Nationalsozialisten wusste. Und inwiefern das Agentennetz des BND mit ehemaligen Nazis durchsetzt war. Schließlich ist erst vor zwei Jahren herausgekommen, dass der ehemalige SS-Obersturmführer und Kriegsverbrecher Klaus Barbie – auch bekannt als "der Schlächter von Lyon" – ein Zuträger des BND war.

Reinhard Gehlen, nach dem Zweiten Weltkrieg Chef der Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes (BND). Das Foto zeigt ihn als Oberst der deutschen Wehrmacht im Jahr 1943 (Foto: AP)
Reinhard Gehlen arbeitete schon als Geheimdienstmann für Hitler. Später gründete er die Organisation Gehlen, den späteren BNDBild: AP

Auch er gelangte nach dem Krieg unbehelligt nach Lateinamerika. In diesem Zusammenhang kommt die sagenumwobene Organisation "ODESSA" ins Spiel. Heute ist sich die Forschung einig: Eine "Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen" mit Namen Odessa, die der Nazijäger Simon Wiesenthal aufgedeckt zu haben glaubte, hat es nie gegeben. Aber: Viele kleinere Organisationen, die hochrangige Nationalsozialisten außer Landes brachten, gab es. Über so genannte "Rattenlinien" brachten sie die Flüchtigen meist über Italien nach Lateinamerika (in erster Linie nach Argentinien) oder in den Nahen Osten.

"Eichmann ist nach Südtirol gefahren und dort lagen Papiere für ihn bereit, die sowohl von argentinischer als auch von südtiroler Seite zusammengetragen worden sind", erzählt Bettina Stangneth von ihren Recherchen. Außerdem seien die Kinder und Ehefrauen der offiziell Gesuchten häufig unter echtem Namen gereist - so auch Eichmanns Familie. Die Organisation Gehlen, die zumindest teilweise mit ehemaligen NS-Funktionären besetzt war, hat also vermutlich nicht nur gewusst, dass sich Adolf Eichmann unter falschem Namen in Argentinien aufhielt, sondern kannte auch die Aufenthaltsorte von vielen weiteren Kriegsverbrechern.

Neue Ergebnisse: frühestens Ende 2013

Dass der BND versucht hat, die Verteidigung Eichmanns zu beeinflussen und auch mit der Finanzierung seines Anwalts zu tun hatte, haben die Forschungen eines deutschen Journalisten schon 2011 zutage gefördert. Die BND-Akten bestätigen laut Bettina Stangneth diese brisante Allianz. "Wir wissen nur nicht, wie tief die BND-Mitarbeiter involviert waren, wie stark auch finanziell Einfluss genommen wurde", sagt die Philosophin. Beim Prozess gegen Klaus Barbie 1987 in Lyon tauchen dieselben Namen wieder auf, als es um seine Verteidigung geht. War auch hier der BND am Werk? "Die Verstrickungen", so Stangneth "reichen immer weiter in die Gegenwart hinein."

Klaus Barbie bei seiner Verhaftung (Foto: Getty Images)
Der Nazikriegsverbrecher Klaus Barbie (unter der Decke) bei seiner Verhaftung in Bolivien. Zuvor hatte er unter anderem für den BND gearbeitetBild: Getty Images

Eines ist bereits jetzt klar: Der Fall Eichmann ist noch lange nicht abgeschlossen. "Es bewegt sich, nur leider zu langsam", sagt Bettina Stangneth. "Längerfristig werden alle Dokumente veröffentlicht werden müssen", sagt der Historiker Holger Meding. Bislang darf und kann er nichts über seine Erkenntnisse aus der ungeschwärzten Akte sagen. Die Recherche der Historikerkommission wird voraussichtlich zwei Jahre benötigen. Anfang Dezember 2013 sollen erste Zwischenberichte vorgestellt werden.

Zum Weiterlesen:
Bettina Stangneth: Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders. Arche 2011. 39,90 Euro.