Diabetes bedroht Indiens Entwicklung
14. November 2011China hat nach einer im letzten Jahr vorgelegten Untersuchung mit 92 Millionen die höchste Anzahl an Diabetes-Kranken weltweit. In Indien liegt die Zahl neuen Studien zufolge "nur" bei 51 Millionen. Doch soll sie in den nächsten zwanzig Jahren um 150 Prozent ansteigen. Das könnte für Wachstum und Modernisierung der aufstrebenden Macht Indien einen schweren Rückschlag bedeuten – von dem menschlichen Leiden ganz abgesehen.
Indische Wohlstandskrankheit
Es sind immer wieder dieselben Geschichten, die Diabetes-Patienten in Indien ihren Ärzten erzählen. In Indiens Megastädten wie Delhi, Mumbai, Chennai oder Kolkata würden die langen Arbeitszeiten in den Büros einfach keine Zeit für Sport oder gesundes Essen lassen. Einkaufen gehen und womöglich noch lange kochen, sei daher unmöglich. Ob in Zeitschriften, auf Flyern oder im Fernsehen: überall werben die Fast-Food-Anbieter für Pizza oder Burger. Cola ist in Indien inzwischen eine Art Nationalgetränk. Wer Cola trinkt, ist cool. Und wer etwas auf sich hält in Indien, braucht ein Auto, das als Statussymbol gilt. Während die Bevölkerung auf dem Land zum Teil noch harte körperliche Arbeit verrichten muss, leisten sich viele Familien in den Städten für die Hausarbeit Dienstmädchen, die putzen und kochen.
Indiens Zukunft ist bedroht
Seitdem der indische Premierminister P.V. Narasimha Rao 1991 Indiens Märkte liberalisierte, boomt die Wirtschaft. Bis zu acht Prozent Wirtschaftswachstum konnte Indien durchschnittlich in den letzten Jahren vorweisen. Das Pro-Kopf-Einkommen vervierfachte sich binnen zwanzig Jahren. Die Armut konnte drastisch reduziert werden. Die Zahl der Analphabeten sank. All diese Fortschritte könnten zunichte gemacht werden, wenn in den nächsten Jahren die Chancen von ganzen Generationen durch Krankheiten wie Diabetes zerstört würden. Denn vor allem die jüngere Bevölkerung ist gefährdet. Das Durchschnittsalter in Indien, in dem Diabetes diagnostiziert wird, liegt bei 42,5 Jahren - im Westen ist es wesentlich höher.
Professor Hermann von Lilienfeld, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Diabetikerbundes, zeichnet ein düsteres Bild für die Zukunft: "Das ist eine Belastung für die gesamte Volkswirtschaft." Dabei müsse man aber berücksichtigen, dass es in Indien einen großen Teil der Bevölkerung gebe, der noch nicht vollständig ernährt ist, so Lilienfeld. "Diabetes bekommen natürlich die, die sich immer mehr dem westlichen Ideal in Bezug auf Ernährung und Lebensweise angleichen. Da müsste das Gesundheitssystem parallel entwickelt werden. Man muss allerdings skeptisch sein, weil dies die Möglichkeiten eines sich entwickelnden Landes überschreiten wird. Das ist eine große Aufgabe."
Die Gesundheitspolitik ist gefordert
Das ohnehin sehr fragile indische Gesundheitssystem kämpft immer noch gegen im Westen längst ausgerottete Krankheiten wie Malaria, Polio, Tuberkulose und Lepra. Bei einer Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen bleibt eine Krankenversicherung in Indien für viele ein Traum. Bisher sind nur etwa fünf Prozent der Inder versichert. Oft wird Diabetes daher weder diagnostiziert noch behandelt. Oder die Diabeteskranken können sich die teuren Medikamente nicht leisten. Der mehrfach für seine Forschungen ausgezeichnete Arzt und als gesundheitspolitischer Berater in Indien tätige Dr. K.K. Aggarwal aus Neu Delhi sagt: "Wenn Diabetes sich als Epidemie in Indien weiter ausbreitet, werden wir bald das Land mit den meisten Blinden weltweit sein, mit den meisten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, mit den meisten Amputationen. Bedauerlicherweise gibt es bisher noch kein Diabetes-Kontrollprogramm in Indien." Zwar gebe es Pilotprojekte, so Aggarwal, die sich entweder mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, nichtübertragbaren Krankheiten oder mit Fettleibigkeit auseinandersetzten. "Aber all diese Aspekte müssen gebündelt werden. Sonst wird sich nichts ändern."
Die indische Regierung hat angekündigt, die Gesundheitsausgaben bis 2012 von weniger als einem Prozent auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Schätzungen der Weltbank zufolge gehen Indien jedes Jahr durch Krankheiten wie Diabetes oder Herzkreislauferkrankungen mehr als 23 Milliarden US-Dollar verloren. Das Wirtschaftswachstum könnte ohne die Krankheitsfälle um bis zu vier Prozentpunkte höher ausfallen.
Das verdrängte Leiden
Diabetesexperte Hermann von Lilienfeld erklärt, warum Diabetes eine so tückische Krankheit ist: "Es gibt den schönen Satz: Zucker tut nicht weh. Davon leitet man als Betroffener ab: Na ja, ganz so schlimm wird es ja nicht sein. Das heißt die Zeit, in der man nichts merkt von dem Zucker, in der entwickeln sich Krankheiten, die man merkt: also Herzprobleme, Schlaganfall, Augen -oder Nierenprobleme. Und wenn es dann rauskommt, wenn man zum Beispiel nichts mehr sieht, dann ist es zu spät und man kann es nicht mehr beeinflussen."
Sein Augenlicht oder durch eine Amputation Gliedmaßen zu verlieren, bedeutet in einem Land wie Indien Abhängigkeit. Damit verlieren Diabeteskranke nicht nur ihre Lebensgrundlage, sondern auch ihre Würde. Die Folgen der Diabetes-Epidemie, so formulieren es viele Experten drastisch, werden in Indien noch schlimmer sein als die der Erderwärmung - wenn nicht schnell gehandelt wird.
Autorin: Priya Esselborn
Redaktion: Hans Spross