Auf nach Köln
22. Februar 2019Im Juni 1988 machte unter den Studierenden in Peking ein Gerücht die Runde: Alle, die das Aspirantenstudium absolviert haben, dürften bald nicht mehr auf eigene Faust im Ausland studieren, weil der Staat bereits zu viel in ihre Bildung investiert hätte. Würde ich also länger in China bleiben, müsste ich allein auf das Versprechen meines Professors vertrauen, mich irgendwann während der Promotion an die Universität Tübingen, der Partner-Uni der Peking-Universität, zu schicken. Das hätte Jahre der Ungewissheit für mich bedeutet. Dabei wurde doch nach zehn Jahren Trockenübungen in mir der Drang immer stärker, endlich einmal in dem Land zu leben, in dem ich von morgens bis abends von dieser wunderbaren Sprache umgeben sein würde.
Letztendlich gab mir dieses Gerücht den letzten Anstoß, alles Vertraute hinter mir zu lassen und auf eigene Faust ins Ausland zu ziehen. Bis dahin hatten mich meine fürsorglichen Eltern von allen weltlichen Sorgen ferngehalten. Nicht ein einziges Mal habe ich zu Hause kochen oder putzen müssen. Mein Papa räumte hinter mir alles auf und hatte stets seinen Standardspruch parat: "Geh lernen. Ich mache das schon." Immer öfter hatte ich das Gefühl, dass ich in ihrer Liebe ersticke. Ihnen und vor allem mir selber wollte ich beweisen, dass ich auch ohne ihre Liebe und Fürsorge zurechtkommen würde.
Money-back-Verfahren an den chinesischen Hochschulen
Schnell stellte sich heraus, dass es sich tatsächlich nur um ein Gerücht handelte. Es war nicht so, dass der enttäuschte Vater Staat seine "gebildeten Kinder" in eine Art Landesarrest stecken würde. Vielmehr waren die Hochschulen dabei, eine Gebührenordnung auszuarbeiten, um den "landesflüchtigen" Studenten jedes Semester und Studienjahr in Rechnung zu stellen. Das allerdings machte die Sache für mich nicht besser. Denn die für die damaligen Verhältnisse horrende Summe von Zigtausend Yuan hätten meine Eltern niemals aufbringen können. Ich musste also noch vor der Einführung dieser Gebührenordnung nach Deutschland aufbrechen.
Plötzlich musste ich feststellen, wie wenig ich vom Land meiner Träume wusste. Wohin sollte die Reise gehen? Nach Tübingen konnte ich nicht, da ich durch meinen Entschluss, mein Studium abzubrechen, Professor Zhang Yushu verprellt hatte. Auf seine Unterstützung konnte ich also nicht mehr zählen. Zudem hatte ich herausgefunden, dass es in dieser schnuckeligen Unistadt wenig Jobchancen gab, die ich aber dringend brauchte, um meinen Lebensunterhalt zu finanzieren.
Aus Mannheim erhielt ich Post von meinem besten Freund, der seit einem Jahr dort studierte: "Die Stadt ist nicht wirklich schön. Aber die Uni genießt einen hervorragenden Ruf vor allem in den Wirtschaftswissenschaften." Er hatte es geschafft, von Germanistik auf Betriebswirtschaftslehre umzusteigen und avancierte schnell zu einem Überflieger. "Ein Professor sagte letztens zu den deutschen Studenten: 'Wenn Ihr Euch nicht anstrengt, könnt Ihr später die Koffer Eurer asiatischen Chefs tragen' und blickte dabei in meine Richtung." Ich war stolz auf ihn. Aber die Wirtschaftswissenschaften hatten damals bei mir noch nicht denselben Stellenwert erreicht wie Goethe oder Heine.
Das Lass-die-Sau-raus-Fest
"Komm nach Köln!" riet mir mein Deutschland-Ratgeber Klaus Reh. Von Köln kannte ich nicht nur die Firma Otto Wolff, als deren China-Chef Reh fungierte. Bilder der riesigen gotischen Kathedrale hatten mich selbst als Atheistin berührt. Von der Mentalität her stünden die Kölner den Chinesen am nächsten, sagte mir Reh - erst später verstand ich, was er damit meinte. Schließlich studiere sein Sohn ebenfalls an der Kölner Uni und könne mir bei der Wohnungssuche behilflich sein, versuchte mir Reh die Domstadt noch schmackhafter zu machen. Und der Kölner Karneval sei einzigartig - er kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Zu Hause schlug ich nach: Auf Chinesisch bedeutet Karneval "Lass-die Sau-raus-Fest". Das hörte sich gut an.
Noch mehr Universitäten konnte ich angesichts des Zeitdrucks nicht mehr in Betracht ziehen. Anfang Juli schickte ich zwei Bewerbungen nach Deutschland, eine nach Köln, eine zweite als Backup nach Mannheim. Drei Wochen später trudelten zwei Zulassungen am selben Tag bei mir zu Hause ein. Meine Eltern fielen aus allen Wolken. Denn als ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Entscheidung mit großer Reichweite ganz alleine traf, waren beide auf Dienstreisen im Ausland - meine Mutter in Tokio, mein Vater in Moskau. Nun hatte ich sie vor vollendete Tatsachen gestellt, oder wie man auf Chinesisch sagt: 生米煮成熟饭 (Nun ist der Reis gar). Ihre Tochter wollte flügge werden. In welcher Gemütslage meine Eltern sich befanden, konnte ich erst 27 Jahre später nachvollziehen, als die älteste meiner eigenen Töchter auszog. Mit dem kleinen Unterschied, dass meine Tochter nur zum Studium in eine andere Stadt in Nordrhein-Westfalen wechselte, während ich meinen Eltern die Distanz von 8000 Kilometern zumutete.
Doch darauf nahm ich als wild entschlossene junge Frau keinerlei Rücksicht. Ich freute mich auf mein erstes Abenteuer, auf die Reise in die weite fremde Welt und auf die Stadt mit den zwei riesigen Kirchentürmen. Die paar Fetzen Kölsch, die mir die pensionierte Bahnbeamtin von der deutschen Reisegruppe beigebracht hatte, konnte ich noch auswendig: "Ich bin ne Kölsche Mädche" und "Ming Sching sin fott".
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie "Deutschsein ist kein Zuckerschlecken" schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.