Deutschlands digitale Herausforderungen
28. September 2017Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel in der estnischen Hauptstadt Tallinn ihre EU-Kollegen trifft, gibt es eine Menge Gesprächsstoff: Kommissionspräsident Jean-Claude Junckers neueste Vision für die Europäische Gemeinschaft ebenso wie der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagene Europaplan - alles wichtige Themen, aber nicht der Grund, warum der derzeitige Vorsitzende des EU-Rats, Estlands Premier Jüri Ratas, eingeladen hat. Es geht um eine andere Mammutaufgabe der EU: die Digitalisierung.
Die EU will sich digital besser aufstellen
Die EU hat sich in dieser Hinsicht viel vorgenommen: Seit 2015 wird etwa an einer Strategie für einen Daten-Binnenmarkt gearbeitet, von dem sich die Mitglieder ein jährliches Plus von 415 Milliarden Euro für die europäische Wirtschaft erhoffen. Mit der Abschaffung der Roaming-Gebühren in der EU war eines der ersten Ziele dieses Plans erreicht.
Seit diesem September ist etwa auch der freie Datenaustausch innerhalb der EU geregelt, allerdings nur für nicht-personenbezogene Informationen. In Fragen der Netzsicherheit konnten sich die Mitgliedsstaaten auf eine grundlegende Strategie einigen, inklusive der von Macron propagierten Idee einer europäischen Cyber-Security-Agentur. 2018 sollen EU-weite Gesetze zu Datensicherheit und Nutzungsrechten folgen.
Auf dem Gipfel in Tallinn soll vor allem über zwei zentrale Fragen diskutiert werden: die digitale Zukunft der öffentlichen Verwaltung und die der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft. Doch während Deutschland derzeit in vielen Fragen den europäischen Diskurs dominiert, kann es mit seinem Stand der Digitalisierung nicht glänzen.
Deutschland hinkt in der Digitalisierung hinterher
"Aktuell machen wir unsere Hausaufgaben", sagt Lena-Sophie Müller von der Digitalisierungsinitative D21. Im europaweiten allgemeinen Ranking zur Digitalisierung (DESI) liegt Deutschland zwar auf Platz elf der 28 Mitgliedsstaaten, bei der Digitalisierung der Verwaltung aber nur auf Platz 20. Nur jeder fünfte deutsche Internetnutzer nimmt aktuell elektronische Behördendienste aktiv in Anspruch. Deutschland liegt damit weit unter dem europäischen Durchschnitt von 32 Prozent.
Die deutschen Bürger sind vor allem mit dem digitalen Angebot der Behörden unzufrieden. Das zeigt eine Untersuchung, die von der Initiative D21 im Oktober unter der Schirmherrschaft des Bundesinnenministeriums (BMI) veröffentlicht wird und der Deutschen Welle bereits vorliegt.
Die Hälfte der Befragten würden digitale Angebote der deutschen Behörden nicht nutzen, weil sie gar nicht davon wüssten. Ebenso viele beklagten die Inkonsequenz der Angebote: Die Bürger könnten ein Formular zwar oft schon digital abrufen, aber ausdrucken und verschicken müsse man es dann trotzdem.
Der Anspruch der Bürger steigt
Über ein Drittel der Befragten fühlen sich im digitalen Behördendschungel allein gelassen. Denn auch das stellt die Initiative D21 immer wieder fest: Die Teilnahme an der digitalisierten Gesellschaft ist auch eine Frage der Bildung. Wer schlechter ausgebildet ist, nutzt auch digitale Angebote von Behörden weniger.
Onlinetickets, Sendungsverfolgung bei Postdiensten oder der digitale Zugriff aufs eigene Kundenkonto: "Das sind Standards, an die sich die Bürgerinnen und Bürger gewöhnen." Der Staat kann selbst mit bundeseigenen Unternehmen wie der Deutschen Bahn nicht mithalten. "Wenn die Verwaltung sich dem Takt unserer digitalisierten Welt nicht anpasst, wird sie zur Bremse im System", sagt D21-Geschäftsführerin Lena-Sophie Müller.
Aber nicht nur der Anspruch der Bürger steigt, auch der Druck von Seiten der EU. Eine der für 2018 geplanten Digitalverordnungen sieht die Zusammenführung der öffentlichen Verwaltung vor. Bürger sollen künftig ihre Daten nur einmal an den Staat abgeben müssen, so dass verschiedene Behörden darauf zugreifen können. Das wünschen sich übrigens auch die Bürger, zeigt der "eGovernment Monitor".
Die Kompetenz ist da
Denn wenn es sein muss, kann Deutschland eigentlich ganz schnell digitalisieren. Das habe die Flüchtlingskrise gezeigt, sagt Müller: "Da war der Druck so hoch, dass man es plötzlich geschafft hat, ein zentrales Register zu schaffen." Diese Kooperationsstrukturen müsse man nur übertragen: "Da hat man eine Blaupause, wie man vorgehen könnte."
Laut Müller sei der Wendepunkt in Deutschland bereits erreicht, auch aus taktischen Gründen: "Deutschland spielt in der EU normalerweise eine starke Rolle", sagt Müller. Das beziehe sich vor allem auf Außenpolitik und wirtschaftliche Fragen - in Digitalisierungsfragen "stehen wir eher am Spielfeldrand".
"Die Esten haben momentan den Vorsitz und machen ziemlichen Druck." Estland hat in der Tat nicht ohne Grund zum Digitalisierungsgipfel während seiner Ratspräsidentschaft geladen. Das Land ist europäischer Vorreiter im E-Gouvernance-Ranking, die digitale Behörde ist Alltag. Seit 2005 ermöglicht das Land sogar elektronischen Wahlen.
Estland wird ein wichtiger Partner
In Deutschland wäre sowas selbst in vier Jahren noch nicht denkbar, sagt Müller, nicht nur, weil man das baltische Land mit 1,3 Millionen Einwohnern nicht mit dem 82-Millionen-Land Deutschland vergleichen könne, sondern auch, weil Deutschland noch ganz grundlegende Aufgaben zu erledigen hat, etwa den flächendeckenden Internetzugang. Die Nutzung schneller Breitbanddienste liegt in Deutschland noch immer unter dem EU-Durchschnitt, stellt der DESI-Index fest.
"In der letzten Zeit ist in Deutschland das Interesse an den estnischen Erfahrungen beim Aufbau der digitalen Gesellschaft erheblich gestiegen", sagte der stellvertretende EU-Minister Estlands, Matti Maasikas, der Deutschen Welle. "Deutschland ist auf dem Gebiet der Digitalisierung für Estland ein wichtiger Partner geworden." Vor allem auf dem Gebiet von Industrie 4.0 und e-Governance wolle man künftig stärker zusammenarbeiten.
Denn Deutschland ist lernwillig. Das estnische Konzept eines Bürgerausweises, der an ein digitales Bürgerkonto gekoppelt ist, wurde in Deutschland auch mit dem neuen Personalausweis vom BMI bereits getestet. Das estnische Vorbild hatte Angela Merkel bei ihrem letzten Besuch in Tallinn geschenkt bekommen.