Deutschlands digitale Defizite
19. November 2015Wenn der Nationale IT-Gipfel der Bundesregierung ein Maßstab dafür sein sollte, wo die Digitalisierung in Deutschland steht, dann sieht es düster aus. Der drahtlose Internetzugang am Veranstaltungsort, der Arena am Treptower Park in Berlin, war jedenfalls so überlastet, dass sich trotz mehrerer zur Verfügung gestellter WLAN-Netze Computer und andere mobile Geräte praktisch alle 30 Sekunden aus dem Internet verabschiedeten. Beim Zugang über das mobile Funknetz war ebenfalls Geduld gefragt.
Was im Kleinen nicht funktioniert, ist symptomatisch für den Zustand der gesamten digitalen Infrastruktur in Deutschland. In einem aktuellen Ranking ist Deutschland auf der Liste der zehn weltweit führenden Nationen mit 53 von 100 möglichen Indexpunkten um einen Platz auf Rang sechs zurückgefallen. China verbesserte sich hingegen und rückte gemeinsam mit Japan auf Platz vier vor. Deutschland investiere zu wenig in dem Zukunftsfeld, um auf Dauer wirtschaftlich stark zu bleiben, mahnt selbst der deutsche EU-Digitalkommissar Günter Oettinger.
Der politische Wille ist eigentlich da
Am politischen Gewicht, das der Digitalsierung beigemessen wird, kann es nicht liegen: Mit gleich fünf Ministern rückte die Bundeskanzlerin zur nunmehr neunten Auflage des Treffens an. "Wir sind heute so viele, wir sind fast beschlussfähig im Sinne der Bundesregierung", scherzte Angela Merkel. Dann aber wurde sie ernst, und das hat seinen Grund. Zwar gibt es eine digitale Agenda, millionenschwere Förderprogramme und sogar einen Minister, der die Digitalisierung in sein Ressort ausdrücklich zu verantworten hat. Trotzdem ist Deutschland im weltweiten digitalen Vergleich keinesfalls der Musterschüler, der die Wirtschaftsmacht sein sollte.
Schnelles flächendeckendes Internet ist im Land immer noch Fehlanzeige. "Wenn sie - ich spreche jetzt mal als Parteivorsitzende - ihren Parteifreunden im ländlichen Raum eine Nachricht mit mehr als drei bewegten Bildern schicken wollen, dann müssen die ja eine halbe Stunde laden, da öffnen die ihre Emails gar nicht mehr." Bis 2018, so verspricht die Kanzlerin, werde es überall in Deutschland Internet mit einer Geschwindigkeit von 50 Megabit pro Sekunde geben. "Ich weiß schon, dass wir für viele technische Anwendungen bedeutend mehr brauchen", fügt sie noch hinzu. Schon bald werde die Bundesregierung daher die Ziele über das Jahr 2020 hinaus festlegen.
Der Wirtschaftsminister drängt
Bald - das reicht Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel nicht aus. "Für ein Industrieland wie Deutschland wäre es angemessen, sich für das Jahr 2025 vorzunehmen, die modernste digitale Infrastruktur der Welt zu haben", fordert der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler. Dass dies nur mit teuren Glasfaserleitungen zu schaffen sein wird, weiß Gabriel. "Die Debatte über ausgeglichene Haushalte und anderes mehr darf uns nicht daran hindern, einen solchen Schritt zu wagen", forderte er auf dem IT-Gipfel. Ansonsten werde Deutschland wirtschaftliche Nachteile erleiden, die sich in den Haushalten widerspiegelten.
"Wir hoffen, dass sie trotz der Langsamkeit die Qualität unserer Arbeit schätzen", fügte Gabriel an das Plenum des IT-Gipfels gerichtet mit etwas verkniffenem Lächeln hinzu. Davon kann der Minister aber nicht unbedingt ausgehen. In der Wirtschaft jedenfalls mehren sich die Klagen darüber, dass vielerorts in Deutschland das schnelle Netz seit Jahren nicht mehr als ein leeres Versprechen ist.
Die Wirtschaft hinkt hinterher
Vielleicht liegt es auch an der mangelhaften Infrastruktur, dass die Erfordernisse und Folgen des Internetzeitalters in vielen Unternehmen noch lange nicht in allen Köpfen angekommen sind. Bis vor Kurzem sei selbst im Maschinenbau jedes zweite Unternehmen nicht der Meinung gewesen, dass die Digitalisierung zum Kerngeschäft gehöre, so Gabriel. "Klassischerweise wird in unseren Unternehmen vom Produkt her gedacht." Investitionen und Innovationen erfolgten ins Produkt, um damit effizienter und wirtschaftlich besser zu sein und Marktanteile zu erobern.
"Dass sich hier inzwischen eine ganz neue Form von Wertschöpfung zwischen Produkt und Kunden schiebt, die berühmte Plattformökonomie, und Wertschöpfungsanteile vom Produkt wegzieht, ist jedenfalls im deutschen Mittelstand nicht jedermann ausreichend klar und es fehlt oft an der Bewertungskompetenz für diese neue Form der Wertschöpfung", kritisiert der Wirtschaftsminister.
"Der Mittelstand hinkt hinterher", bekräftigt auch Thorsten Dirks, Präsident des IT-Branchenverbands Bitkom. Um die Leitbranchen in Deutschland erfolgreich zu digitalisieren, müssten gerade die vielen kleinen Champions, die zur deutschen Wirtschaftsstärke beitragen, das Netz als Chance verstehen.
Testfelder bieten
Hilfestellung soll die Plattform Industrie 4.0 bieten, die ihre Arbeit auf dem IT-Gipfel vorstellte. Die Plattform bündelt Kräfte aus Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik. Auf einer Landkarte werden über 200 Anwendungen zur Industrie 4.0 aufgelistet, von der intelligenten Datenbrille, die den Montage-Mitarbeiter durch einzelne Produktionsschritte führt bis zum Onlinemarktplatz, auf dem sich Kunden per Smartphone-App Schaumstoffeinlagen selbst konstruieren können. Für interessierte Unternehmen bietet die Plattform Testmöglichkeiten, um Industrie 4.0-Anwendungen auszuprobieren.
Das allein reicht aber nicht aus. Es müsste vielmehr dafür getan werden, die produzierende Wirtschaft mit innovativen Startups, Hochschulen und Forschungseinrichtungen in einem leistungsstarken digitalen Ökosystem zusammen zu bringen, fordert Bitkom-Präsident Dirks. Ihm schweben sogenannte Hubs für Leitbranchen wie Automobil, Logistik oder Pharmazie aber auch Banken und Versicherungen vor. "Wir müssen in Deutschland und Europa Orte schaffen, an denen sich die digitale Avantgarde versammelt", so Dirks.
Unterstützung für junge Unternehmen
Gerade auch für die Entwicklung von Startups müsse mehr getan werden. Dafür will sich auch Bundeswirtschaftsminister Gabriel einsetzen. "Sollen wir die jetzt kaufen oder nicht", das sei mit Blick auf junge, innovative Unternehmen immer noch eine weit verbreitete Reaktion bei deutschen Konzernen. Der Wirtschaftsminister fordert stattdessen mehr Bewusstsein für die Chancen, die eine Finanzierung mit sich bringe. "Wenn das nächste Mal in Berlin eine Investorenkonferenz stattfindet, wäre es ganz schön, wenn alle 30 Dax-Konzerne aus Deutschland da anwesend wären und nicht nur amerikanische Unternehmen", so Sigmar Gabriel.
Und noch ein Problem will der Wirtschaftsminister angehen. Es könne beispielsweise nicht sein, dass Kapitalgeber, die in ein Unternehmen einstiegen und dort Verlustvorträge hätten, zuallererst Steuern beim Finanzamt entrichten müssten. Auf europäischer Ebene müsse grünes Licht gegeben werden, dies zu ändern. Dies müsse innerhalb der nächsten sechs Monate gelingen. "Da verlasse ich mich auch auf das Wort der Kanzlerin, dass sie sich hierbei einsetzen will."