Deutschland - ein Land in Wut
11. Januar 2024Es ist noch nicht so lange her, da gewann die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Bundestagswahl, indem sie vor allem eins tat: Nichts. "Sie kennen mich", lautete ihr Wahlkampfslogan, auf Plakaten wurden ihre Hände gezeigt, die eine Raute bildeten. Diese Geste hatte für Merkel etwas Meditatives. Sie helfe ihr, Abstand zu ihrem Gegenüber zu halten, sagte sie einmal.
Irgendwann wurde aus der Raute auch ein politisches Symbol. Es stand für das Versprechen an die Wähler, dass sich an ihrem Leben in Wohlstand und Frieden nichts ändern würde und die Bürger nichts zu befürchten hätten. Aus der heutigen Perspektive ein Trugschluss. Doch die Vergangenheit hat die Deutschen geprägt.
Nicht vorbereitet auf Schocks und Krisen
Es habe sich eine Mentalität herausgebildet, die man mit dem Satz umschreiben könne: "Verändert ruhig die Welt, aber nicht meinen Lebensstil", analysierte der bulgarische Politologe Ivan Krastev im Oktober 2023 im Magazin "Der Spiegel" in einem Gespräch mit dem grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Deutschland sei in seiner "inneren Verfasstheit" nicht auf die Krisen und Schocks vorbereitet gewesen. "Die letzten 30 Jahre waren so gut, dass die Menschen sich wünschen, dass das Gestern nicht enden soll."
Auf den Krieg in der Ukraine und seine Folgen für Deutschland war allerdings auch die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP nicht vorbereitet, als sie im Dezember 2021 an die Macht kam. Deutschland verändern, aber ohne Wohlstandsverluste, das war das Versprechen der Ampel-Koalition.
Selbst die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft und Gesellschaft sollte ohne Wohlstandsverluste möglich sein. Kreditfinanziert mit 60 Milliarden Euro, die während der Pandemie wider Erwarten nicht gebraucht worden waren. Eine Haushaltsführung, die das Bundesverfassungsgericht im November 2023 aber für verfassungswidrig erklärte.
Kürzungen verstanden als Zumutungen
Nun steht die Regierung endgültig mit leeren Händen da. Ihre Versprechen konnte sie nach dem Ausbruch des Kriegs ohnehin nicht mehr halten. Der Abschied vom billigen russischen Gas hat die Preise zeitweise explodieren lassen und die Wirtschaft in eine Rezession gestürzt. Die Wohlstandsverluste sind überall spürbar.
In dieser Situation wird jede weitere Kürzung als Zumutung empfunden. Die einen macht das mürbe und müde, andere sind wütend auf die Regierung. Als Bundeskanzler Olaf Scholz an Silvester und kurz danach Hochwassergebiete besuchte, schlug ihm purer Hass entgegen. Er wurde als "Lügner", "Volksverräter" und "Verbrecher" beschimpft.
Drama an der Nordsee
Besonders aufgebracht sind die Bauern, denen Subventionen gestrichen werden sollen. Bundesweit blockieren sie Straßen und Wege, fahren protestierend in die Städte und legen den Verkehr lahm.
An der Küste versuchten aufgebrachte Landwirte, womöglich zusammen mit Rechtsextremen, eine Fähre zu stürmen, mit der der grüne Vizekanzler Robert Habeck aus seinem Weihnachtsurlaub zurückkehrte. Es kam zu dramatischen Szenen, vergleichbar mit solchen, die man bisher nur aus dem Osten der Republik kannte. Aus den Regionen, in denen die in Teilen rechtsextremistische AfD besonders viel Zuspruch hat. Während der Corona-Pandemie kam es hier immer wieder zu Aufmärschen vor Privathäusern von Politikern mit teilweise gespenstischen Szenen.
Tendenzen der Spaltung und Auflösung
2016 waren die Deutschen laut einer Studie innerhalb der EU das Volk, das am wenigsten für populistische Politik empfänglich schien. Das scheint sich geändert zu haben. Die Gesellschaft polarisiere sich, sagt der Publizist Albrecht von Lucke von den "Blättern für deutsche und internationale Politik". Die Positionen würden sich immer weiter an die politischen Ränder bewegen. Deutschland zeige "Spaltungs- und Auflösungstendenzen", verabschiede sich von einer Konsensgesellschaft in eine "Streit-Unkultur".
"Streit ist für die demokratische Kultur unabdingbar" so Lucke gegenüber der DW. "Aber wenn dieser Streit nicht mehr mit der Bereitschaft einhergeht, Kompromisse zu bilden, sondern jede Klientelgruppierung versucht, die maximalen Interessen durchzusetzen, dann erodiert die Demokratie, dann verliert die Regierung jegliche Autorität und am Ende driften die Positionen immer mehr an die Ränder."
Jeder schaut auf sich selbst
Ähnlich, allerdings nicht ganz so dramatisch, sieht es Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung Tutzing. "Ich finde nicht, dass wir von einer Spaltung der Gesellschaft in zwei gleich große Teile sprechen sollten, aber ich sehe, dass die Randbereiche der Gesellschaft größer werden", sagt die Politikwissenschaftlerin gegenüber der DW, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte sich deswegen auch per Video geäußert. Damit meine Münch diejenigen, "die tatsächlich zum Dissens neigen, die starke Unzufriedenheit äußern, die Protestveranstaltungen durchführen".
Wie derzeit die Bauern, aber auch die Gewerkschaft der Lokführer. Beides starke Interessensgruppen, die mit ihren Aktionen eine ganze Republik lahmlegen können. Für Lucke sind die Proteste der Bauern exemplarisch dafür, dass "jeder nur noch auf sich selbst" schaue. "Die Bauern haben fast die Rücknahme aller Maßnahmen erreicht, kämpfen aber trotzdem weiter, um auch das Letzte durchzusetzen."
Aufgestaute Wut
Ursula Münch erklärt die Bauern-Proteste ein Stück weit auch mit Überforderung. Zum einen finanziell, weil die Subventionen schnell gestrichen werden sollten, "ohne dass man rechtzeitig oder gleichzeitig Zeit hat, sich angemessen darauf vorzubereiten". Die Bauern hätten sich aber auch übergangen gefühlt, weil mit ihnen und ihren Verbänden vorab nicht gesprochen worden sei. "Man fühlt sich an den Rand gedrängt und nicht in der eigenen Bedeutung wahrgenommen."
Wer mit Bauern spricht, bekommt vielfach zu hören, dass auch der Reformdruck überfordernd sei. Immer wieder gebe es neue Auflagen zum Klima- und Umweltschutz und beim Thema Tierwohl. Vor allem kleinere Betriebe geben an, dass ihnen zu wenig Zeit für Veränderungen gegeben werde und das Geld nicht ausreiche.
Der übergriffige Staat?
Ein Gefühl, das auch den Bürgern nicht unbekannt ist. Als Anfang 2023 durchsickerte, die Regierung wolle Öl- und Gasheizungen so schnell wie möglich verbieten und stattdessen vorschreiben, Wärmepumpen zu installieren, war der öffentliche Aufschrei groß. Vor allem der grüne Wirtschaftsminister Habeck geriet in Misskredit, die Umfragewerte der Ampel-Parteien stürzten ab.
Politikwissenschaftlerin Münch sagt: "Bis dahin haben viele gesagt, naja, das verstehen wir ja, man muss ein bisschen was ändern. Aber dass es dann so unmittelbar am eigenen Geldbeutel, im eigenen Heizungskeller und in der eigenen Garage ankommt, das ist jetzt tatsächlich die Veränderung, dass man im Grunde dann diesen Staat auf einmal als übergriffig empfindet."
Die AfD profitiert
Überfordert müsse sich in Deutschland allerdings kaum jemand fühlen, sagt Münch. "Ich meine, wir sind ja nun auch durchaus ein Land, das große Ressourcen hat, das finanzielle Grundlagen hat, wir sind ein Sozialstaat." Es sei verständlich, dass Einzelne Sorgen hätten, aber man dürfe sich "jetzt auch nicht ins Bockshorn jagen lassen".
Ein Einwand, der vielerorts so aber nicht gesehen wird. Die Partei, die davon am meisten profitiert, ist die AfD. Ihre Zustimmungswerte sind weiter gewachsen. In den Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo im September Landtagswahlen stattfinden, ist die AfD in Umfragen teilweise mit Abstand stärkste Kraft.
Gibt es 2024 "Wut-Wahlen"?
Die AfD treibt die Polarisierung voran. Politikwissenschaftlerin Münch warnt davor, "nur noch die Botschaften von Extremisten und Populisten" zu hören. "Im Augenblick gibt es meines Erachtens tatsächlich eine Bedrohung oder eine gewisse Gefahr, weil bei einem Teil der Bevölkerung die Voraussetzung gegeben ist, dass man sich vielleicht leicht instrumentalisieren lässt." Die Zahl der Menschen nehme zu, "die sich abwenden und sagen, uns wird doch überhaupt nur die Unwahrheit erzählt".
Der Publizist Albrecht von Lucke erwartet für 2024 "Wut-Wahlen", zumal bei der Ampel-Koalition keine Besserung in Sicht sei. "Die Zerstrittenheit wird weitergehen, der Frust im Lande wird wachsen und wir werden es mit Protest- und Ressentiment-Wahlen zu tun bekommen."