Deutschland will Leistungen für Flüchtlinge kürzen
7. November 2023Von einem "historischen Moment" sprach Bundeskanzler Olaf Scholz, nachdem sich der Bund und die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer auf eine Reihe von Maßnahmen geeinigt haben, mit denen die deutsche Asylpolitik verschärft werden soll.
Hatten Asylbewerber bislang nach 18 Monaten Anrecht auf reguläre Sozialleistungen, soll das in Zukunft erst nach drei Jahren möglich sein. Bis dahin gilt der verminderte Satz von 410 Euro pro Monat. Leistungen wie Essen in staatlichen Unterkünften sollen angerechnet werden. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) schrieb im Online-Dienst X, vormals Twitter, dies könne zu Einsparungen in Höhe von einer Milliarde Euro führen. Dadurch würden "nicht nur Länder und Kommunen entlastet". Es werde "auch die Anziehungskraft des deutschen Sozialstaats reduziert".
Möglichkeiten, Asylbewerber für gemeinnützige Arbeiten einzusetzen, sollen einfacher genutzt werden können. Wer als Flüchtling ins Land kommt, soll künftig vor allem mit Sachleistungen versorgt werden. Bis Anfang 2024 soll ein Modell für eine Bezahlkarte vorliegen, mit denen Güter des täglichen Bedarfs bargeldlos eingekauft werden können. Dies würde Möglichkeiten für Asylbewerber einschränken, Geld in ihre Heimatländer zu überweisen.
Migrationsforscher winken ab
"Das Sachleistungsprinzip wurde in den Neunzigern schon ausprobiert, es wurde 2015 schon ausprobiert und es hat sich immer wieder herausgestellt, dass es einfach nicht praktikabel ist", urteilt Niklas Hader vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin. Es sei schon länger rechtlich möglich, Geflüchtete vorrangig mit Sachleistungen zu versorgen, so Harder bei einer Veranstaltung des Mediendienstes Integration in Berlin. Die Länder und Kommunen würden das nicht machen, weil es viel aufwendiger sei als Bargeld auszuzahlen.
Menschen, die in Erstaufnahmeeinrichtungen leben, bekommen ohnehin nur ein Taschengeld von maximal 150 Euro, da sie vor Ort versorgt werden und untergebracht sind. Dieses Taschengeld ist verfassungsrechtlich festgeschrieben. "Wir alle wissen außerdem, dass man natürlich auch das Geld auf einer Geldkarte zu Bargeld machen kann, wenn man denn unbedingt möchte", so Harder.
Kampf gegen Schleuser
Die im Oktober eingeführten stationären Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz werden aufrechterhalten - laut Bundeskanzler Olaf Scholz "über lange Zeit". Flüchtlinge, die aus anderen EU-Staaten nach Deutschland wollen, sollen möglichst direkt in diese zurückgeschickt werden. Es ist daher geplant, Kontrollen bei Einverständnis des Nachbarstaats bereits vor der deutschen Grenze durchzuführen. In Polen ist das bereits der Fall.
Asylverfahren sollen beschleunigt werden, das Ziel ist, die Dauer auf sechs Monate samt Einspruch vor Gericht zu begrenzen. Vor allem die unionsgeführten Länder würden die Asylverfahren gerne auch außerhalb Europas stattfinden lassen, etwa in Afrika. Diese Möglichkeit soll geprüft werden, es gibt aber erhebliche juristische Bedenken und auf Zweifel an der Umsetzbarkeit. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte nach dem Treffen von Bund und Ländern: "Positiv: Es bewegt sich was. Negativ: Das reicht noch nicht. Wir müssen weiter Druck machen, um die Zuwanderung nach Deutschland zu begrenzen."
Feste Finanzierungszusagen
Bislang mussten die Bundesländer jedes Jahr neu mit dem Bund darüber verhandeln, wer welche Kosten für die Versorgung der Flüchtlinge bezahlt. Nun soll es eine Pauschale von 7500 Euro pro Geflüchtetem und Jahr geben. Doch reicht das aus? Der Leipziger Oberbürgermeister und Vizepräsident des Deutschen Städtetages, Burkhard Jung (SPD), verneinte das bereits. Der Beschluss sei zwar positiv, weil er finanzielle Sicherheit gebe, sagte Jung im Deutschlandfunk. 7.500 Euro seien aber "deutlich zu wenig".
Städte und Gemeinden schlagen seit langem Alarm, weil sie sich überfordert fühlen. Im laufenden Jahr sind bis Oktober rund 220.000 Erstanträge auf Asyl gestellt worden. Außerdem leben rund eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge im Land. Die meisten sind privat untergekommen, doch das funktioniert nicht immer auf Dauer. So melden sich immer mehr Ukrainer und Ukrainerinnen bei den Behörden, um staatlich untergebracht zu werden.
Deutsche Kommunen im Notfallmodus
Bundesweit wissen viele Bürgermeister und Landräte nicht mehr, wo sie die Geflüchteten noch unterbringen sollen, die ihnen über einen festgelegten Verteilschlüssel zugewiesen werden. Allerdings ist die Lage nicht überall gleich. Das zeigt eine Umfrage, die der Mediendienst Integration zusammen mit Migrationsforschern der Universität Hildesheim im Oktober durchgeführt hat.
Danach beschreiben knapp 60 Prozent der befragten Kommunen die Lage als "herausfordernd, aber (noch) machbar". 40 Prozent berichten hingegen von einer "Überlastung" beziehungsweise sehen sich "im Notfallmodus". 600 von insgesamt rund 11.000 deutsche Kommunen haben sich an der Umfrage beteiligt. Sie sei nicht repräsentativ, warnt der Hildesheimer Wissenschaftler Boris Kühn, denn bei weitem nicht alle angefragten Bürgermeister und Landräte hätten geantwortet. "Aber die Zahlen erlauben auf jeden Fall eine große, bundesweite Einschätzung."
Nicht nur Wohnungen für Geflüchtete fehlen
Was die Forscher interessierte, waren vor allem die Gründe für die empfundene Überlastung. Genannt wurden fehlende Unterbringungsmöglichkeiten, fehlende Plätze in Kindergärten, aber auch fehlendes Personal in der Verwaltung. Rund ein Drittel der Kommunen, die hier geantwortet haben, sehen diese Bereiche als "überlastet, im Notfallmodus".
Seltener, aber ebenfalls zahlreich, wurden Schulen, Sprachkurse, Beratungsangebote und ganz allgemein "Integration" genannt. Eine übermäßige Belastung ergibt sich aber offenbar nicht automatisch, wenn die Flüchtlinge nur noch in Not- oder Massenunterkünften untergebracht werden können. "Auch die Verwaltung und die Betreuung von vielen kleinen Wohneinheiten kann sehr aufwendig sein und wenn eine Kommune unter Personalmangel leidet, kann natürlich gerade bei so einer integrationspolitisch guten Lösung ein hohes Maß an Belastung oder Überlastung entstehen", so Kühn.
Gestresste Politiker
Beinahe die Hälfte der Kommunen nutzt aktuell Notunterkünfte, vor allem Container. Sporthallen sind dagegen nur in sechs Prozent belegt. Was den Forschern auffiel: Die Beurteilung der eigenen Lage hängt auch davon ab, wer die Befragung ausgefüllt hat. Bürgermeister oder Landräte, also die politisch Verantwortlichen, schätzen die Lage tendenziell negativer ein: Zu 53 Prozent sehen sie die eigene Kommune als "überlastet" an. Bei Mitarbeitenden der Fachabteilungen sei das nur bei 37,5 Prozent der Fall gewesen.
Miriam Marnich vom Deutschen Städte- und Gemeindebund führt das auf die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Migrationspolitik zurück. Die komme vorrangig bei den Politikern an. Die Bürgerinnen und Bürger hätten inzwischen Zweifel daran, "ob dieser Staat diese Aufgabe noch bewältigen kann". Diese Stimmung sei überall zu spüren. "Integration ist in vielen Kommunen faktisch im Moment nicht mehr möglich, weil die Ressourcen erschöpft sind. In personeller Hinsicht, aber auch im Hinblick auf Aufnahmekapazitäten."
Was könnte bei der Bewältigung der Zuwanderung helfen?
Drei Bereiche wurden besonders häufig genannt: Eine Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland und damit geringere (oder gar keine) Zuweisungen mehr in die eigene Kommune. Mehr Geld vom Bund und den Ländern, um die Aufgaben vor Ort bewältigen zu können, und dabei eine verlässliche Dauerhaftigkeit der Finanzierung. Diesem Punkt kommt die Einigung des Bundes und der Länder auf 7500 Euro pro Flüchtling zumindest entgegen.
Gewünscht wird von den Kommunen auch die Unterstützung bei der Unterbringung und der Versorgung der Geflüchteten mit Wohnraum. Konkret wurden hier insbesondere Vereinfachungen bei gesetzlichen Vorschriften, eine stärkere Verantwortung von Bund und Land für Unterkünfte, aber auch eine Förderung des sozialen Wohnungsbaus genannt.
Abschiebungen: "zahlenmäßig nicht viel zu holen"
Knapp ein Fünftel der kommunalen Vertreter, die sich an der Umfrage beteiligt haben, wünscht sich mehr Abschiebungen. Angesichts dessen, "wie prominent das Thema aktuell bundespolitisch und landespolitisch gesetzt wird, ist das wenig", sagt Migrationsforscher Kühn. Er führt das darauf zurück, dass tatsächlich nur eine Minderheit der untergebrachten Geflüchteten eine Duldung habe oder gar vollziehbar ausreisepflichtig sei. "Das heißt, auf diesem Wege ist eigentlich zahlenmäßig nicht viel zu holen."