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Deutschland vor dem Corona-Herbst 2023

9. September 2023

Die Zahl der Corona-Infektionen beginnt wieder zu steigen. Droht nach dem Ende der Pandemie eine neue Welle?

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Symbolbild Coronavirus Selbsttest
Positives Testergebnis nach einem Corona-Schnelltest - jetzt wieder häufiger in DeutschlandBild: pressefoto_korb/picture alliance

Es ist September 2021 in Deutschland, als die ersten "Booster"-Drittimpfungen gegen COVID-19 starten, viele Schülerinnen und Schüler mit FFP2-Masken im Unterricht sitzen und täglich auf das Virus getestet werden und für Ende Oktober ein "Freedom Day" gefordert wird -die Aufhebung aller Corona-Beschränkungen. Ein Jahr später, im September 2022, macht der Bundesrat den Weg für das Infektionsschutzgesetz frei: Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr, Testpflicht für Krankenhäuser und Pflegeheime, während die Maskenpflicht auf Flügen abgeschafft wird.

Heute, im September 2023, ist die Pandemie auch offiziell vorbei, die Weltgesundheitsorganisation hat sie für beendet erklärt. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die extremen Wetterereignisse durch den Klimawandel oder auch die Streitigkeiten in der deutschen Ampel-Regierung haben Corona längst bei den Schlagzeilen abgelöst. Doch manche Deutsche sorgen sich, weil die Zahl der Infektionen in den letzten Wochen wieder angestiegen ist.

"Situation stabil", doch Pirola und Eris im Kommen

Alles - noch - kein Grund zur Beunruhigung; Professor Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, gibt Entwarnung: "Momentan behandeln wir in Deutschland auf den Intensivstationen 182 Patienten mit Corona, davon die Hälfte wegen einer Corona-Lungenentzündung, das ist ein Prozent aller Patienten auf der Intensivstation. Es ist eine sehr stabile Situation, auch wenn wir bei Mitarbeitern und Patienten die letzten Wochen mehr Infektionen beobachten." Aber der Fachkräftemangel in den Krankenhäusern könne zum Problem werden, vor allem im Winter, glaubt Kluge.

Stefan Kluge
"25 Prozent der Intensivbetten stehen wegen Personalmangel in Deutschland nicht zur Verfügung" - Stefan KlugeBild: Axel Heimken/dpa/picture alliance

Es sind zwei neue Virus-Varianten, die weltweit auf dem Vormarsch sind. Zum einen BA.2.86, auch Pirola genannt, welche die WHO als Variante unter Überwachung eingestuft hat und Wissenschaftler wegen der schnellen Ausbreitung an die Anfangszeit von Omikron denken lässt. In Dänemark wurde sie Ende Juli entdeckt, auch in der Schweiz, den USA, Israel und Großbritannien schon nachgewiesen. London hat deswegen sein Impfprogramm vorgezogen, in Israel müssen Personen, die auf eine internistische Station aufgenommen werden, einen PCR-Test machen.

Wird die Pandemie endemisch?

In Deutschland ist BA.2.86 laut Robert-Koch-Institut noch nicht gefunden worden. EG.5, auch Eris genannt, dagegen schon. Die Untervariante der bisher vorherrschenden Virusvariante Omikron hat andere Varianten verdrängt und ist derzeit für rund die Hälfte der Infektionen hierzulande verantwortlich. In den USA führt Eris gerade zu mehr Hospitalisierungen, die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass diese "Virusvariante von Interesse" bald weltweit dominieren wird.

Engpässe im Winter befürchtet

Im Winter könnte es deswegen doch in einigen Regionen Deutschlands kritisch werden, befürchtet Professor Leif Erik Sander, Direktor der Abteilung für Infektiologie und Leiter der Arbeitsgruppe für personalisierte Infektionsmedizin an der Charité in Berlin: "Insbesondere in der Pädiatrie, in der Kindermedizin, wird es im Winter wieder relativ schnell zu Engpässen führen, auch in den Notaufnahmen. Es kann dann tatsächlich Versorgungsprobleme geben, gerade in Regionen, wo vielleicht die Dichte an freien Krankenhausbetten nicht so hoch ist."

Professor Leif Erik Sander
"Wenn sich Patienten nach einem Herzinfarkt gegen die Grippe impfen, sterben im folgenden Jahr wesentlich weniger Patienten an den Folgen des Herzinfarktes" - Leif Erik SanderBild: Frederic Kern/Geisler-Fotopress/picture alliance

Denn in der kälteren Jahreszeit lauert neben Corona auch wieder das sogenannte Respiratorische Synzytial-Virus, kurz RSV. Zwar nimmt diese Atemwegserkrankung laut EU-Arzneimittelbehörde meist einen milden Verlauf, bei kleinen Kindern und bei besonders anfälligen älteren Erwachsenen kann sie jedoch lebensbedrohlich sein. Außerdem wütet auf der Südhalbkugel gerade eine starke Grippewelle, die laut Experten bald auch in Deutschland zu hohen Ansteckungs- und Erkrankungszahlen führen wird.

Auch mit Corona werden sich spätestens im Winter wieder viele Deutsche anstecken, ist sich Professorin Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, sicher. "Die meisten werden dann doch eine Woche zu Hause sein und ausfallen, weil sie krank sind, weil sie einfach wirklich Fieber und Schnupfen haben. Solange Omikron zirkuliert, sehe ich aber im Moment überhaupt keine Gefahr, dass es noch mal nötig wird, dass zum Beispiel der Staat irgendwelche Maßnahmen verhängt."

Sandra Ciesek
"Wir verlassen wir uns im Moment ein wenig auch auf die Daten aus anderen Ländern" - Sandra CiesekBild: Frank Hoermann/Sven Simon/picture alliance

Vor allem Menschen ab 60 Jahren mit bestimmten Vorerkrankungen, Pflege- und Gesundheitspersonal sowie Kontaktpersonen von Risikopatienten sollten im Herbst eine Auffrischungsimpfung bekommen, um gut durch den Winter zu kommen, empfiehlt die Ständige Impfkommission, Stiko. Dabei sollten in der Regel mindestens zwölf Monate seit der letzten Impfung oder Infektion vergangen sein. Wer sich piksen lassen möchte, landet bei Hausärzten wie Markus Beier.

Riesiger organisatorischer Aufwand für Hausärzte

Der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes und Allgemeinmediziner berichtet gegenüber der DW, dass die Hausärzte in den letzten Tagen wieder mehr mit dem Virus zu tun hätten. "Seit ein, zwei Wochen kommen wieder mehr Patienten und Patientinnen mit einer Coronavirus-Infektion zu uns. Jetzt sind es meist Menschen mit vielen Sozialkontakten, die sich dann häufiger wieder infizieren."

Markus Beier
"Jetzt sind es meist Menschen mit vielen Sozialkontakten, die zu uns in die Praxen kommen" - Markus BeierBild: Georg Johannes Lopata/axentis.de/Deutsche Hausärzteverband

An sich kein Problem, doch die Hausärztinnen und Hausärzte stoßen in Sachen Organisation jetzt schon an ihre Grenzen. Denn der Impfstoff kommt bei Ihnen nicht etwa in Einzeldosen an, sondern in Behältern mit sechs Impfstoff-Dosen. Das Problem: Alle müssen gekühlt und am selben Tag innerhalb von zwölf Stunden verimpft werden. Seit zwei Jahren werde dies beim Bundesgesundheitsministerium angemahnt, kritisiert Beier:

"Ziel ist, dass jeder Mensch, der in eine Praxis kommt und eine Corona-Impfung wünscht und braucht, sofort geimpft werden kann. Das heißt, wenn ich kein Verwurf produzieren will, brauche ich zusätzlich zu dem Impfling, der jetzt schon vor mir steht, fünf weitere. Das ist einfach ein riesiger organisatorischer Aufwand und immer ein Abwägen: Verschiebt man die Impfung, wenn man keine weiteren fünf Patienten hat?"

Markus Beier sieht das Bundesgesundheitsministerium in der Pflicht. Dessen Chef, Karl Lauterbach von der SPD, hat jetzt angekündigt, dass die angepassten Vakzine von BioNTech und Pfizer wahrscheinlich ab dem 18. September in den Praxen seien. Den neuen Impfstoff hat die Europäische Kommission gerade zugelassen, die Europäische Arzneimittelbehörde EMA empfiehlt eine Impfung mit dem aktualisierten Vakzin unabhängig von vorangegangenen Corona-Impfungen.

Eigentlich eine gute Nachricht, aber der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes sieht die Nachfragen in den Praxen der Hausärztinnen und Hausärzte schon kommen. "Es gibt bereits eine Verunsicherung, weil bekannt wurde, dass das Bundesgesundheitsministerium ausschließlich den BioNTech-Impfstoff eingekauft hat. Das will ich fachlich gar nicht bewerten, aber so etwas muss kommuniziert werden. Sonst wird bei den Patienten der Eindruck erweckt, man habe keine Wahl, obwohl etwa im letzten Jahr noch Kreuzimpfungen empfohlen waren."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur