Keine Chancengleichheit
25. Juni 2012Manfred Prenzel ist Bildungsforscher und Berater der Bundesregierung. Und gelegentlich ist er auch Überbringer unerfreulicher Nachrichten. So verkündete er Anfang März im Bildungsausschuss des Deutschen Bundestages, dass wir in Deutschland ein massives Gerechtigkeitsproblem hätten. "Je nachdem, in welchem Bundesland Schüler wohnen, werden sie unterschiedlich gut gefördert. Die Leistungsunterschiede in einem Jahrgang betragen bis zu eineinhalb Schuljahre." Mit anderen Worten: Es kann einem jungen Menschen deutlich zum Nachteil werden, wenn er in den Bundesländern Bremen oder Schleswig-Holstein zur Schule geht und nicht in Bayern oder Sachsen. Aber Bildung ist im föderalen Deutschland nun einmal Ländersache, da macht jedes Bundesland die Politik, die es für sinnvoll und finanzierbar hält. Dementsprechend ist eine Hochschulzugangsberechtigung aus Baden-Württemberg mehr wert als eine aus Berlin.
Darüber hinaus spielt es eine gewichtige Rolle, welche Schule man besucht und aus was für einem Elternhaus man stammt. Das hat eine jüngst veröffentlichte Studie, der "Chancenspiegel" der Bertelsmann-Stiftung, noch einmal schwarz auf weiß bestätigt. Wer in einem sozialen Brennpunkt aufwächst, aus einem bildungsfernen Elternhaus oder aus einer Migrantenfamilie stammt, hat demnach deutlich schlechtere Chancen auf gute schulische Leistungen als ein Kind aus einem Akademikerhaushalt, das in einem bürgerlichen Milieu groß wird. Ein trauriger Befund, der skandalöse Züge trägt, weil er nicht neu ist, sondern bereits seit gut zehn Jahren mit bundesweiten Reformen aus der Welt geschafft werden soll.
PISA-Schock
Lange hatte das deutsche Schulsystem als leistungsstark gegolten. Frontalunterricht und die frühzeitige Verteilung der Schülerschaft nach der Grundschulzeit auf Haupt- und Realschule beziehungsweise auf das Gymnasium, das zur Hochschulreife führt, wurden nicht in Frage gestellt. Dann erschien im Jahr 2001 die erste PISA-Studie, eine internationale Schulleistungsuntersuchung der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Von einem Schock war damals in der Bundesrepublik die Rede. Denn dem deutschen Schulsystem waren alarmierend schlechte Noten attestiert worden. In allen Testbereichen – Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften – waren die geprüften 15-jährigen Schüler und Schülerinnen im Vergleich schlechter als der Durchschnitt in führenden Industrienationen. Ein Punkt war besonders alarmierend: In keinem anderen Land entschied die soziale Herkunft so stark über schulische Erfolge wie in Deutschland, nirgendwo sonst erbrachten Kinder aus Zuwandererfamilien ähnlich schwache Leistungen. Von Chancengleichheit konnte keine Rede sein.
Seitdem wird landauf, landab reformiert. In jedem Bundesland ein bisschen anders, aber mit dem gemeinsamen Ziel, unabhängig von der sozialen Herkunft bessere Lernergebnisse zu ermöglichen und deutlich mehr junge Menschen an die Universitäten zu bringen. Eine Bildungsrepublik ist das Ziel, schließlich ist eine rohstoffarme, aber fortgeschrittene Volkswirtschaft ja wesentlich auf kluge Köpfe und innovative Entwicklungen angewiesen. Bildung ist nun schon im Kindergarten ein Thema, eingeschult werden bereits Fünfjährige, und bundesweit sind nach anfänglichem Widerstand zahlreiche Ganztagstagschulen entstanden. Unterrichtet wird fächerübergreifend, projektorientiert sowie in dem Bemühen um individuelle Förderung. Immer häufiger entscheidet sich die weitere Schulkarriere eines Kindes nicht schon nach der vierten Grundschulklasse, sondern erst später. Mittlerweile liegen die Leseleistungen der 15-Jährigen im OECD-Mittelfeld, die in Mathematik und den Naturwissenschaften sogar deutlich darüber. Die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten ist ebenfalls gestiegen. Die Chancengleichheit allerdings nicht.
Bildungsdschungel
Manches hat sich nicht verändert: Immer noch fehlt qualifiziertes Personal, immer wieder mangelt es an der nötigen Finanzierung, und noch immer dominiert der Wettbewerbsgedanke das deutsche Bildungswesen. So, wie die einzelnen Bundesländer miteinander um Bildungserfolge konkurrieren, so tun es in den Ländern, Städten und Gemeinden auch die einzelnen Schulen. Keine Bildungseinrichtung gleicht mehr der anderen, jede setzt eigene Schwerpunkte, grenzt sich ab und will sich hervortun. Bei manchen Schulen stehen Kunst und Musik im Vordergrund, bei anderen Technik und Naturwissenschaften, bei den einen werden zusätzlich Sprachkurse für Migrantenkinder angeboten und bei den anderen Russisch oder Chinesisch. Und manchmal geht es auch nur darum, Schule als einen Ort sozialer Geborgenheit zu gestalten. Wer den Durch- und Überblick hat, der findet für sich und sein Kind den optimalen Anbieter. Alle anderen haben potentiell das Nachsehen.
Silke Bartlick ist Korrespondentin im DW-Studio Berlin und kümmert sich seit Jahren unter anderem um Themen aus Kultur- und Bildungspolitik.