Die Zeit läuft ab für NS-Prozesse
12. April 2016Ernst T. hätte sein Schweigen brechen können. Hätte erzählen können, was er wusste über Auschwitz und die Geschehnisse dort zwischen November 1942 und Juni 1943. Als einer der letzten Zeitzeugen hätte er Angehörigen von Opfern gegenübertreten und sich verantworten müssen. Doch T., der mehr als 70 Jahre geschwiegen hatte, hat alle Antworten mit ins Grab genommen. Er starb mit 93 Jahren, knapp eine Woche vor seinem ersten Gerichtstermin. 71 Jahre nach Kriegsende sollte T. wegen Beihilfe zum Mord in 1075 Fällen der Prozess gemacht werden.
"Ich bedauere, dass es nicht mehr zu einer juristischen Aufarbeitung gekommen ist", sagt Jens Rommel, Leiter der zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Seine Behörde hatte T. und andere als ehemalige Mitarbeiter des Konzentrationslagers Auschwitz ausfindig gemacht. T. soll im Alter von 19 und 20 Jahren dort Wachmann und an der Abwicklung von Gefangenen-Transporten beteiligt gewesen sein. Der Prozess gegen ihn wäre wohl einer der letzten gewesen, die in Deutschland wegen solcher Taten geführt werden. Zwar stehen unter anderem in Kiel und Neubrandenburg noch Verfahren an. Ob sich die greisen Angeklagten jedoch tatsächlich der Justiz stellen müssen, ist wegen ihres Alters und der damit zusammenhängenden gesundheitlichen Probleme fraglich. Immer deutlicher wird: Was Rommel und seine Mitarbeiter anstoßen, endet in den wenigsten Fällen vor Gericht. Mehr als zu zeigen, dass auch sieben Jahrzehnte nach Kriegsende nichts von dem, was einst geschah, vergeben und vergessen ist, bleibt unterm Strich nicht.
Die Meisten sind tot oder nicht mehr verhandlungsfähig
Es ist ein Rennen gegen die Zeit, das die Behörde führt. "Es kann sein, dass Leute sterben, damit müssen wir nach so vielen Jahren rechnen", weiß Rommel. "Und wer noch lebt, ist oft dement und verhandlungsunfähig." Dennoch hatte die zentrale Stelle 2013 die Namen von fast 60 ermittelten Beteiligten an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland weitergeleitet. 30 Personen sind demnach in Auschwitz tätig gewesen, 28 im Konzentrationslager Majdanek. "Von den Fällen, die wir für Auschwitz gefunden haben, sind fünf in der juristischen Bearbeitung", erläutert Rommel. Darunter jenes aus Kiel und das aus Neubrandenburg. Ein weiteres Verfahren liegt bei der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main, jedoch sei noch keine Anklage erhoben worden, so deren Sprecherin. Wann und ob das sein wird, kann sie nicht sagen.
Für die ermittelten Beteiligten aus Majdanek sehe es laut Rommel ähnlich aus: In 25 Fällen wurden die Verfahren eingestellt, weil die Betreffenden verstorben oder dement sind. "Ein Fall, der sich in Österreich ereignet hatte, ist verjährt", erläutert der Behördenleiter. "Und eine Person ist bereits damals in der sowjetischen Besatzungszone verurteilt worden." Aktuell fahnden die Nazijäger aus Ludwigsburg in Auschwitz-Papieren weiter. "Wir werden uns auch noch Bergen-Belsen und Neuengamme vornehmen", bekräftigt Rommel. Doch auch diesbezüglich möchte der Behördenleiter keine allzu großen Hoffnungen wecken.
Kein Sonderstrafrecht für NS-Verbrechen
Warum die Fälle, die inzwischen eingestellt werden mussten, nicht schon vor Jahren juristisch geklärt wurden, darüber möchte Rommel nicht spekulieren. Hauptgrund jedoch, so erläutert er, sei ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) von 1969 gewesen. Damals hatten die Richter entschieden, dass "nicht jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers eingegliedert war und dort irgendwie anlässlich dieses Programms tätig wurde" auch bestraft werden könne. Strafbar laut dieser Entscheidung konnte "nur derjenige sein, der die Haupttat konkret gefördert hat", wie es nachzulesen ist. Beihilfe nennen das die Juristen.
Erst mit dem Urteil gegen John Demjanjuk, der als Wachmann in Sobibor tätig war, geschah 2011 die Wende. Obwohl sowohl ihm als auch dem 2015 verurteilten "Buchhalter von Auschwitz" genannten Oscar Gröning keine Beihilfe an einzelnen konkreten Morden nachgewiesen werden konnte, sind sie verurteilt worden. Demjanjuk, weil er in einem Lager tätig war, in das Menschen ausschließlich zur Ermordung gebracht worden waren. Gröning, weil ihm Beihilfe während eines Zeitraumes nachzuweisen war, in dem Menschen getötet wurden. "Sie haben das Gesamtsystem unterstützt und ohne die Unterstützung so vieler hätte es nicht funktioniert", fasst Rommel zusammen, wie die Justiz heute, vierzig Jahre nach der bis dato geltenden BGH-Entscheidung, handelt.
Dass es aber selbst für Juristen schwer ist, nach all den Jahren und auf der Grundlage heute geltender Gesetze festzustellen, wer in welchen Maß für welche Taten mitverantwortlich ist, betont Rommel auch. "Unser Strafrecht ist nicht auf Massenverbrechen ausgelegt, sondern auf Einzeltaten." Und ein Sonderstrafrecht für NS-Verbrechen gibt es in Deutschland nicht. "Hinzukommt, dass ein Gericht für jeden Angeklagten feststellen muss, was er damals, als 19-Jähriger im Krieg, wusste von der Haupttat und dem Beitrag, den er dazu leistet."
Entmutigen lässt sich der Jurist davon jedoch nicht. Die Arbeit seiner Behörde gehe weiter "solange Strafverfolgungsaufgaben anfallen", sagt er. Danach soll die zentrale Stelle ein Dokumentations- und Forschungszentrum werden. Umsonst war die Arbeit der Mitarbeiter also nicht – selbst wenn es zu keinem Prozess mehr kommen wird.