"Europa ohne Merkel ist möglich"
29. Oktober 2018Für viele Beobachter in Brüssel kommt die Kanzlerinnen-Dämmerung in Berlin, die mit der Aufgabe der Parteiführung beginnt, nicht überraschend. Schon im Sommer nach einem gescheiterten Flüchtlingsgipfel der EU schrieb das Politik-Portal "Politico" Angela Merkel ab. Die Durchsetzungsfähigkeit der Kanzlerin hatte wegen der internen Streitereien in ihrer Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD arg gelitten. "Wie Merkel die EU spaltet", schrieb "Politico", eine Art internes Mitteilungsblatt der politischen Elite in der EU-Zentrale Brüssel.
Die Regionalwahlen in Bayern und Hessen mit ihren herben Verlusten für die Große Koalition waren da noch gar nicht abgehalten. Doch es war klar, dass Angela Merkels Kurs in der Flüchtlingspolitik 2015 den Aufstieg der Populisten in vielen Ländern der EU befördert hatte. Die von ihr geforderte Solidarität in der Migrationspolitik und eine verbindliche Verteilung von Flüchtlingen konnte sie bislang nicht durchsetzen. Allerdings hatte sie sich zuletzt auch für eine Schließung der Außengrenzen und Asylzentren in Nordafrika eingesetzt.
"Manche werden froh sein"
In Polen, Ungarn und auch Italien wird man Merkel, wenn sie irgendwann auch ihr Regierungsamt aufgibt, wohl kaum eine Träne nachweinen. Zudem halten viele Politiker in Krisenländern Merkels Rolle bei der Bewältigung der Finanz- und Eurokrise in Griechenland, Zypern, Portugal, Spanien, Irland und jetzt auch Italien, für falsch, weil sie zu rigide und zu sehr am Sparen orientiert gewesen sei.
"Europa ohne Merkel ist natürlich möglich. Wenn man in einer Führungsrolle ist wie Deutschland und die Kanzlerin, dann gibt es natürlich auch Länder oder Regierungen, die nicht ganz so zufrieden mit ihrem Wirken sind. Deshalb wird es nicht nur in Osteuropa, sondern auch im Süden Europas Menschen geben, die froh sind, wenn die Kanzlerin weg ist", sagte Janis Emmanouilidis, Leiter der Denkfabrik "European Policy Centre" der DW in Brüssel.
Der rechtsradikale Innenminister Italiens, Matteo Salvini, attestierte Angela Merkel in einem DW-Interview im September, sie habe die Flüchtlingsfrage unterschätzt. Nach der Hessenwahl legte Salvini nun nach und sagte, das Ergebnis sei ein "Hammerschlag" für Merkel.
"Sie gab eine gewisse Stabilität"
In den meisten EU-Staaten jedoch, glaubt Janis Emmanouilidis vom "European Policy Centre", wird Angela Merkel geschätzt, schon deshalb weil sie als dienstälteste Regierungschefin einfach die meiste Erfahrung in Europa hat.
"Grundsätzlich glaube ich aber, dass es eine Wertschätzung für eine gewissen Stabilität in Berlin gab. Diese Stabilität war auch wichtig aus europäischer Perspektive und aus der Perspektive der meisten Mitgliedsstaaten. In Zeiten der Unsicherheit ist Stabilität ein hohes Gut."
Dass "Mutti", wie sie selbst in der eigenen christdemokratischen Fraktion im Europaparlament genannt wird, nun in absehbarer Zeit gehen könnte, ist für viele in Brüssel gewöhnungsbedürftig, glaubt der EU-Experte Emmanouilidis. "Auch wenn sie nach 13 Jahren an der Macht jetzt jemand ist, den man sich kaum wegdenken kann, dann wird es doch klar geregelt werden, wer ihr Nachfolger sein wird. Dann wird es am Ende auch einen Tag danach und eine Zeit danach geben."
Entscheidungen auf Eis?
Entscheidungen werden auf der Ebene der EU in Sachen Migration, Brexit oder Reform der Euro-Zone schon seit Monaten immer wieder verschoben. Das hat auch mit der zögernden Kanzlerin zu tun, die sich mehr um die Koalition daheim kümmern muss, als dass sie Zeit für die akuten Krisen der EU hätte. Mit ihrer Ankündigung, den Parteivorsitz und damit ihre Hausmacht abzugeben, sowie 2021 nicht mehr das Amt der Kanzlerin anzustreben, hat sich Angela Merkel selbst zur lahmen Ente erklärt.
Trotzdem bleibt Deutschland natürlich als größtes und finanzstärkstes Mitgliedslands prägend in der EU. EU-Diplomaten gehen davon aus, dass es zum Beispiel nicht mehr möglich sein wird, noch vor den Europawahlen im Mai 2019 bei den Verhandlungen zum gemeinsamen Haushalt der EU voranzukommen. Für den Haushalt ist der deutsche Kommissar Günther Oettinger zuständig, den Merkel nach Brüssel entsandt hatte.
Unklar ist auch, wie sich Merkels Rückzug auf Raten auf eine weitere Personalfrage auswirken wird. In der kommenden Woche wollte sich der deutsche Konservative Manfred Weber (CSU) zum Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei küren lassen. Weber wollte im Herbst dann das Amt des Kommissionspräsidenten der EU anstreben. Dabei hätte die deutsche Regierungschefin eigentlich ein entscheidendes Wörtchen mitzureden.
Macron braucht neuen Partner
Wenig erbaut über Merkels möglichen Abgang von der Europa-Bühne dürfte der französische Präsident Emmanuel Macron sein, der zusammen mit der "guten Freundin Angela" seine Reformagenda für die Währungsunion voranbringen wollte. "Es bedeutet aber sicherlich, dass es eine gewisse Zeitspanne der Unsicherheit geben wird. Das ist aus der Perspektive von Präsident Macron nicht das, was er sich erhofft", meint dazu der EU-Experte Janis Emmanouilidis.
"Andererseits haben wir seit Beginn der heutigen Großen Koalition gesehen, dass die Kanzlerin und auch die Regierung insgesamt auf die Vorschläge von Macron, auf die Vorschläge aus Paris nicht eingegangen sind. Die Frage wird sein, wie sich das nach dem Abgang von Frau Merkel weiter entwickelt." Es könnte also auch eine Chance für Emmanuel Macron sein, wenn Merkel den Führerstand verließe.
Einer Spekulation, die sich in Brüssel lange gehalten hat, wurde heute von Angela Merkel selbst beendet. Die Kanzlerin stellte klar, dass sie kein Amt in den Führungsetagen der Europäischen Union anstrebe. Manche Beobachter hatten es für möglich gehalten, dass sie im kommenden Jahr nach Brüssel wechseln würde, entweder als Präsidentin der EU-Kommission oder als Präsidentin des Europäischen Rates. Beide Posten sind in etwa einem Jahr neu zu besetzen.