Deutschland sucht dringend Arbeitskräfte
26. Juli 2022Es hätte ein schöner Abend werden können. "Einen Tisch hätte ich für Sie", sagt der Restaurant-Besitzer am Telefon, "aber leider niemanden, der für Sie kochen kann." Was zunächst wie ein Scherz klingt, ist ernst. In ganz Deutschland fehlen Köche, Küchenhilfen und Servicekräfte. Doch nicht nur die Gastronomie leidet unter einem Arbeitskräftemangel.
Züge fallen aus, weil Lokführer fehlen. In Flughäfen stapeln sich Koffer, weil es niemanden gibt, der sie verladen kann. An den Sicherheitskontrollen entlädt sich die Wut von Flugreisenden, die wegen der langen Schlangen ihren Flug verpassen, Kindergärten ziehen Aufnahmezusagen zurück, weil Erzieher fehlen.
Engpässe in 148 Berufen
In einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, der die Interessen von mehreren Millionen Unternehmen aus Industrie, Handel und Dienstleistungen vertritt, klagen 56 Prozent der Firmen über fehlende Mitarbeiter und bezeichnen das als eines der größten Geschäftsrisiken.
Aktuell listet die Bundesagentur für Arbeit in 148 Berufen Engpässe auf. Weitere 122 Berufe stehen unter Beobachtung. Acht Monate dauert es im Schnitt, bis ein Altenheim eine Pflegekraft findet. Baufirmen müssen ein halbes Jahr einrechnen, um einen Mitarbeiter für den Tiefbau zu finden. Bundesweit sind mehr als 1,7 Millionen freie Stellen ausgeschrieben.
Nicht nur Fachkräfte fehlen
"Vor fünf bis zehn Jahren haben wir Anzeigen geschaltet, um unsere Leistungen zu verkaufen. Heute schalten wir Anzeigen in Medien aller Art, um Mitarbeiter zu gewinnen", klagt Markus Winter, Geschäftsführer des Industriedienstleisters IDS in Baden-Württemberg. Die Firma beschäftigt rund 750 Mitarbeiter und sucht in mehr als 20 Berufen Personal: Von Schlossern über Maler, Gabelstaplerfahrer und Montagearbeiter bis hin zu Fahrern für Getränkelieferungen.
"Wir haben nicht mehr nur ein Fachkräfteproblem, sondern ein generelles Arbeitskräfteproblem", stellt Winter fest. Auch Arbeitsstellen für Ungelernte, also Menschen ohne Berufsausbildung, könnten nicht mehr ausreichend besetzt werden. "Das sind Bereiche, die sind wirklich systemrelevant für die Industrie, ohne die geht es einfach nicht."
Bald gehen die Babyboomer in Rente
Der Mangel kommt nicht überraschend. "Wir sind jetzt in einer relativ dramatischen Situation, die wir eigentlich schon relativ lange prognostiziert haben", sagt Herbert Brücker, Professor am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Der demografische Wandel mache sich bemerkbar. Deutschland verliere pro Jahr rund 350.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter. Dabei gehen die geburtenstarken Jahrgänge erst in ein paar Jahren in Rente. Bis 2035, so rechnen Experten wie Brücker vor, werden dem Arbeitsmarkt rund sieben Millionen Menschen weniger zur Verfügung stehen.
Das ist keine einfache Lücke, sondern ein riesiges Loch. Eins, das durch inländische Arbeitskräfte nicht zu stopfen ist und auch nicht durch Zuzüge aus der Europäischen Union. Laut Arbeitsmarktforscher Brücker geht die Zahl der Zuwanderer aus der EU kontinuierlich zurück. "Die Einkommen holen auf in den anderen EU-Ländern, und sie sind selbst vom demografischen Wandel betroffen." Das Potenzial junger, auswanderungsbereiter Menschen sei in der EU weitgehend ausgeschöpft. "Die Party ist im Prinzip vorbei, sage ich mal salopp."
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetzt enttäuscht
Um die aktuelle Mangellage auf dem Arbeitsmarkt aufzufangen, müssten 400.000 Zuwanderer pro Jahr nach Deutschland kommen - und bleiben. Menschen aus sogenannten Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union. Seit 2012 können akademische Fachkräfte über die sogenannte Blaue Karte EU nach Deutschland kommen. 2020 trat außerdem das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) in Kraft, das auch nichtakademische Berufe einbezieht. Doch es wirkt nicht, wie erhofft, und das nicht nur, weil sich kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland oft noch schwer damit tun, ausländische Fachkräfte anzuwerben. 2020 kamen 30.000 Fachkräfte aus dem Ausland, im Gegenzug verließen 20.000 das Land. Von einer "Enttäuschung" spricht Arbeitsmarktforscher Brücker.
Die Bundesregierung will das Gesetz reformieren und im September erste Eckpunkte vorlegen. Dazu gehört, den Arbeitsmarkt auch für Fachkräfte zu öffnen, die einen Arbeitsvertrag, aber noch keinen hierzulande anerkannten Berufsabschluss haben. Das kündigten Innenministerin Nancy Faeser und Arbeitsminister Hubertus Heil kürzlich an. Einen Berufsabschluss könne man auch mit Hilfe des deutschen Arbeitgebers nachholen.
Ausbildung am Arbeitsplatz
Mit einem solchen Vorschlag rennen die Minister bei der Wirtschaft offene Türen ein. Noch fordert das Gesetz eine Gleichwertigkeit mit deutschen Qualifikationen. "Der Staat prüft heute, ob jemand geeignet ist für uns als Unternehmen", bringt es Unternehmer Winter auf den Punkt. "Das kann er nicht."
Winter beobachtet schon jetzt bei seinen Kunden in der Industrie, dass sie Stellen auch mit unqualifizierten Arbeitskräften besetzten. "Ich schätze mal, dass ungefähr 20 Prozent keine Facharbeiter sind, sondern Angelernte." Selbst im Maschinenbau sei es möglich, durch Fortbildungen oder durch den innerbetrieblichen Werdegang Arbeitskräfte "sehr qualifiziert und sehr spezifisch" für den Arbeitsplatz auszubilden.
"Nahezu alle Länder der Welt haben völlig andere Ausbildungssysteme als Deutschland", heißt es auch beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag. Der Verband hofft darauf, dass mit der Reform des Zuwanderungsrechts auch die Umsetzung erleichtert wird. "Das fängt an beim Visumprozess, bei dem Unterlagen rund um den Globus geschickt werden, und hört auf bei Behördenmitarbeitern, die komplexe Regelungen nicht immer einheitlich und transparent umsetzen."
Arbeitgeber unter Verdacht
Was das in der Praxis heißt, weiß Rechtsanwältin Bettina Offer, die Unternehmen berät, die ausländische Arbeitskräfte anwerben wollen. Selbst mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche sei es schwer, bei einer deutschen Botschaft einen Termin zu bekommen, um ein Visum zu beantragen und Prüfverfahren könnten Monate dauern. "Ich habe immer wieder Behörden, die den Generalverdacht haben, dass meine Arbeitgeber ja irgendwie Ausländer hierher schmuggeln wollen, anstatt dass sie verstehen, dass die Arbeitgeber Arbeitskräfte suchen."
Offer spricht von "einer tiefverwurzelten Abwehrhaltung" in den deutschen Ausländerbehörden. "Ich habe immer wieder das Problem, dass man kämpfen muss mit diesem Mindset, was noch aus der, ich sage mal, Asyl-Abwehrhaltung stammt, dass eben die Behörden sagen, jeder Ausländer, der draußen bleibt, ist ein guter Ausländer, und das stimmt einfach nicht. Da brauchen wir einen Paradigmenwechsel. Jede Arbeitskraft, die zu uns kommt, ist ein Gewinn für unser Land."
Mehr Arbeitsmöglichkeiten für Geflüchtete
Unternehmer Markus Winter hofft, dass sich darüber hinaus auch im Asylrecht einiges ändern wird. Die Hürden für arbeitswillige Geflüchtete seien viel zu hoch. Winter hat seit 2016 knapp 300 Geflüchtete eingestellt und betreut. "Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass das nicht einfach ist, und zwei Drittel der Leute sind im ersten Anlauf bei uns auch nicht angekommen."
Doch trotz aller Probleme mit der Sprache und mit der Integration der neuen Mitarbeiter gebe es unter den Asylbewerbern großes Potenzial. "Ich kann es politisch verstehen, dass man hier nicht über das Asylgesetz eine versteckte Einwanderungspolitik machen will. Aber auch da muss sich noch einiges ändern."