Deutschland ringt Argentinien nieder
14. Juli 2014Vielleicht ist es der Moment, der diesen Abend entscheidet. 90 Minuten sind rum, die deutschen Nationalspieler gehen langsam Richtung Ersatzbank, schnaufen durch, wirken platt von einer kräftezehrenden Partie. Doch die geht jetzt in die Verlängerung und die Körpersprache der Spieler gibt zu denken. Hängende Köpfe, ausgelaugte Gesichter. Haben sie noch die Kraft für das, was jetzt kommt? Dann ruft der Bundestrainer alle zusammen. Das Team bildet einen Kreis und Joachim Löw spricht. Nur wenige Sätze sagt Löw, seine Hand geht dabei auf und ab, sein Blick wirkt entschlossen, seine Mimik vermittelt Wille. Ein hereingehaltenes Mikro fängt ein paar seiner Worte auf: "Räume schließen, kompakt stehen", dann geht es zurück auf den Platz, während Löw vor der Bank stehen bleibt. Jetzt ist es an seinen Spielern. Er hat alles getan.
Sofort nach dem erneuten Anpfiff wirkte es, als habe die Ansprache der Mannschaft einen neuen Schub versetzt. Die deutsche Nationalelf spielte konsequent nach vorne, suchte die Entscheidung in diesem Spiel, auch wenn die Kräfte zusehends schwanden. Argentinien blieb zwar mit Kontervorstößen auch in der Verlängerung gefährlich, doch Deutschland erarbeitete sich dank viel Einsatz in der Verlängerung ein stärkeres Übergewicht. "Es war ein hartes Stück Arbeit. Die Spieler sind bis weit über ihre Grenzen gegangen", wird Löw später über diese Phase des Spiels sagen. "Die Mannschaft war eine verschworene Einheit, die für den Titel gekämpft hat." Tatsächlich ist es das, was am Ende den Unterschied machte: Deutschland fightete noch etwas mehr, rannte noch etwas länger und zeigte den größeren Willen.
Der Fanblock steht Kopf
In der 113 Minute zahlt sich das alles aus. Der früh eingewechselte André Schürrle setzte sich auf der linken Außenbahn energisch durch und flankte in die Mitte. Dort wartete der ebenfalls eingewechselte Mario Götze, der den Ball mit der Brust annahm und dann direkt aufs Tor schoss - keine Chance für Argentiniens Keeper Sergio Romero, 1:0 für Deutschland. Der deutsche Fanblock im Maracanã stand Kopf, während auf dem Rasen alle in weiß auf Mario Götze zustürmten, ihn in ihrer Freude fast zerdrückten.
Ein emotionaler Moment, der nur noch von dem sieben Minuten später übertroffen wurde: Schiedsrichter Nicola Rizzoli pfiff die Partie ab, doch kaum jemand hörte das noch, weil ein Jubel-Inferno aufbrandete. Während die deutschen Fans auf der Tribüne förmlich ausrasteten, stürmten die Ersatzspieler auf den Platz, warfen sich auf ihre Teamkollegen und bildeten so einen Berg aus frischgebackenen Weltmeistern. Ziel erreicht, endlich der lange ersehnte Titel. "Wir haben dieses Projekt vor zehn Jahren gestartet. Wir haben uns in allen Jahren kontinuierlich gesteigert und immer daran geglaubt. Wenn es jemand verdient hat, dann diese Mannschaft", lobte Joachim Löw seine Elf nach dem Spiel überschwänglich. Doch ein Teil des Lobes gebührt im selbst.
Die Spezialkräfte machen den Unterschied
Denn es waren am Ende tatsächlich die von Joachim Löw seit Beginn des WM-Turniers beschworenen "Spezialkräfte" von der Bank, die dieses Spiel entschieden und Deutschland den WM-Titel schenkten. Längst hätte sich Schürrle mit seinen bisherigen Leistungen einen Stammplatz verdient gehabt, akzeptierte aber klaglos die Jokerrolle - vielleicht auch weil Löw die bei jeder Gelegenheit verbal aufwertete. Eine Strategie, die erfolgreich Unzufriedenheit im Team vermied und sich sportlich als genau richtig erwies. Denn Schürrles Drang nach vorne und Götzes geistige Frische vor dem Tor brachten Deutschland schließlich den seit 24 Jahren herbeigesehnten vierten Weltmeistertitel ein.
Dass zuvor im deutschen Spiel auch einiges daneben ging, bleibt so eine Randnotiz. Denn einerseits war die Chancenverwertung bei Müller, Kroos, Schürrle und Co. oft zum Haare raufen. Und andererseits luden die deutschen Defensivkräfte Argentinien immer wieder zu gefährlichen Vorstößen förmlich ein. Nur ein paar Beispiele: Linksverteidiger Benedikt Höwedes wirkte zu Beginn mit den Ausflügen von Lionel Messi auf seine Seite völlig überfordert, in der 20. Minute hätte Toni Kroos sich mit einer verunglückten Kopfballrückgabe in den Fuß von Higuain fast einen argentinischen Scorerpunkt verdient und zwanzig Minuten später rettete nur noch das lange Bein von Jérôme Boateng die DFB-Elf vor einem Rückstand.
Schweinsteiger übernimmt Verantwortung
Auch in der zweiten Halbzeit wackelte die deutsche Abwehr bedenklich, ließ Messi mutterseelenallein auf das Tor von Manuel Neuer zu marschieren, doch der Schuss von Argentiniens Nummer 10 ging vorbei (47.). Ohnehin war es nicht sein Tag: Messi musste sich während des Spiels übergeben und wirkte möglicherweise deshalb vor dem Tor oft unkonzentriert.
In dieser Phase der Bedrängnis war es einmal mehr Bastian Schweinsteiger, der reagierte. Nachdem kurz vor dem Spiel Sami Khedira mit Wadenproblemen ausgefallen war und dessen Ersatz Christoph Kramer bereits nach einer guten halben Stunde verletzt ausschied, lastete im defensiven Mittelfeld viel Verantwortung auf ihm. Doch Schweinsteiger hielt dem Druck stand: Er war überall zu finden, gab seinen Mitspielern Anweisungen, war wieder Führungsfigur. Auch wenn seine Kräfte am Ende sichtlich schwanden und er eine Platzwunde am Auge wegstecken musste, sein Wille war ungebrochen. Das strahlte aus auf die gesamte Mannschaft, die sich am Ende eines Spiels, in dem sie deutlich mehr Ballbesitz, Spielanteile und Torchancen hatte, verdient zum Fußball-Weltmeister 2014 kürte.