Lokalpatriotismus statt Nationalstolz
21. Juli 2021Erst seit einigen Jahren ist es in Deutschland halbwegs akzeptabel, öffentlich die Nationalflagge zu schwenken - und selbst für diesen Sinneswandel brauchte es ein großes Fußballevent im eigenen Land, die Fußballweltmeisterschaft 2006.
Die meisten Deutschen halten sich zurück, die Verbundenheit zum eigenen Land öffentlich auszuleben, habe ich in meinen sechs Jahren hier festgestellt. Ganz anders ticken sie aber, wenn es um die Liebe zur eigenen Stadt oder Region geht. Für diesen Fall hält die deutsche Sprache sogar das schöne Wort "Lokalpatriotismus" bereit.
In Deutschland scheint der Stolz auf die Region oder Stadt, in der man lebt, eine viel größere Rolle zu spielen als der auf das eigene Land. Hier, was ich über den deutschen Lokalpatriotismus gelernt habe:
1. Lokale Fehden haben oft lange Vorgeschichten
Lokalpatriotismus beruht nicht auf den Rivalitäten zwischen Fußballklubs. Die sind natürlich ein wichtiger Teil davon, aber einige regionale Feindschaften sind so alt wie die frühesten Aufzeichnungen über Fußball selbst - und reichen bis ins zweite und dritte Jahrhundert vor Christus zurück.
So wird zum Beispiel die berühmte Rivalität zwischen den beiden rheinischen Großstädten Köln und Düsseldorf auch im Stadion ausgetragen und betont, wenn es um den Karneval oder das Bier geht. Sie wurzelt aber in weit zurückliegenden historischen Ereignissen, bei denen auch das liebe Geld eine Rolle spielt:
Während sich das nur 40 Kilometer von Düsseldorf entfernte Köln von einer römischen Kolonie zur größten Stadt des Landes Nordrhein-Westfalen entwickelt hat, ist das moderne Düsseldorf, das aus einer kleinen mittelalterlichen Siedlung hervorgegangen ist, heute Landeshauptstadt.
Das Ereignis, das gemeinhin als die Wurzel allen Übels in der Beziehung der beiden Städte herbeizitiert wird, ist die Schlacht von Worringen am 5. Juni 1288. Ob diese Schlacht tatsächlich der Ursprung der Städte-Rivalität ist, konnte die Forschung allerdings bis heute nicht abschließend klären.
Was auch immer der Ursprung war, wir sprechen hier von mehr als 700 Jahren Streit. Also wagen Sie es bloß nicht, in Köln ein Altbier oder in Düsseldorf ein Kölsch zu bestellen, wenn Sie nicht von den Blicken der Locals getötet werden wollen.
2. Dein ärgster Feind ist dein Nachbar
Diese Art von Rivalitäten betreffen oft direkt benachbarte Städte: zum Beispiel Mainz und Wiesbaden, Frankfurt am Main und Offenbach oder Dortmund und Gelsenkirchen.
Sie können es testen und einfach mal jemanden aus Mannheim fragen, was der schönste Ort in der Nachbarstadt Ludwigshafen ist. Die Antwort wird sicherlich folgende sein: die Brücke über den Rhein nach Mannheim.
Deutschlands unsichtbare Gräben verlaufen aber nicht nur zwischen Städten. Auch die Wahl des Dressings für einen Kartoffelsalat kann zu einer brisanten Frage werden: Sie können sich entweder für die Variante Essig-Öl oder für Mayonnaise entscheiden.
Die Rivalität zwischen den benachbarten Regionen Schwaben und Baden zum Beispiel hat eine lange Tradition - obwohl man beide von außen betrachtet vermutlich einfach unter dem süddeutschen Bundesland Baden-Württemberg subsumieren würde.
Nicht nur in Baden, sondern auch in anderen Teilen Deutschlands hat sich eine antischwäbische Stimmung, ein "Schwabenhass", entwickelt. Dieses Phänomen besitzt sogar mittlerweile einen eigenen Wikipedia-Eintrag in englischer Sprache.
In Deutschland hält sich hartnäckig das Klischee, dass Schwaben gierig, geizig und verklemmt sind. In Berlin wurden die Schwaben zum Feindbild erklärt, weil ihnen vorgeworfen wird, die Gentrifizierung bestimmter Stadtviertel voranzutreiben und mit ihrer schwäbischen Engstirnigkeit den Charakter des sonst so liberalen Berlins zu verändern.
Der tiefste Graben liegt aber nicht zwischen Berlinern und Schwaben, sondern tatsächlich zwischen Schwaben und Badenern. Sie glauben mir nicht? Probieren Sie einfach mal, jemandem aus Karlsruhe in Baden zu erklären, dass er quasi in einem Vorort von Stuttgart in Schwaben wohnt. Viel Erfolg!
3. Berlin gegen den Rest der Welt
Dass man den Bewohnerinnen und Bewohnern der Hauptstadt seines Landes ein gewisses Maß an Geringschätzung entgegenbringt, wenn man nicht selber dort wohnt, kennt wahrscheinlich jeder aus seinem eigenen Land.
Obwohl Berlin bei Touristen und Berlinern gleichermaßen beliebt ist, ist sein Ruf innerhalb Deutschlands nicht gut, wie ich erfahren habe:
Viele Deutsche sehen in Berlin eine Stadt der Faulpelze und Hippies, die der deutschen Wirtschaft auf der Tasche liegen und nichts zum finanziellen Erfolg Deutschlands beitragen.
Berlinerinnen und Berliner hingegen halten ihre Stadt für die beste der Welt - oder zumindest eine der besten in Europa. Die Schar internationaler Künstler, die aus allen Teilen der Welt hierher zieht, ist für sie ein weiterer Beweis dafür, wie anziehend ihre Stadt ist.
4. Lokalpatriotismus statt Nationalstolz
In Deutschland tobt in Anbetracht seiner Geschichte, zu der der Holocaust, der Zweite Weltkrieg und der Genozid an Herero und Nama gehören - um nur ein paar historische Ereignisse zu nennen -, nach wie vor eine heftige Debatte darüber, wie lautstark man den Stolz auf seine Heimat artikulieren sollte und kann.
Doch während Äußerungen über Nationalstolz und Patriotismus - vor allem in der Öffentlichkeit - von vielen in Deutschland mit einer rechten Gesinnung verbunden werden, gilt Lokalpatriotismus als völlig legitim und wird meist als liebenswert goutiert und wertgeschätzt.
Das heißt, bis Sie in Düsseldorf ein Kölsch bestellen.
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