Deutschland – (k)ein Einwanderungsland
12. Januar 2013Ginge es nur darum, die Fakten zu klären, wäre der Streit schnell beigelegt. Denn die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: In Deutschland leben rund sieben Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Nimmt man diejenigen, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, und ihre Kinder hinzu, kommt man sogar auf 15,7 Millionen. Mit anderen Worten: Jeder Fünfte, der in Deutschland beheimatet ist, hat ausländische Wurzeln - oder, wie es politisch korrekt heißt, einen "Migrationshintergrund". Angesichts dieser Statistiken scheint die Feststellung "Deutschland ist ein Einwanderungsland" banal.
Angstdebatte
Und doch werden von Zeit zu Zeit die verbalen Messer gewetzt, um die Debatte neu auszufechten. Vor zwei Jahren beispielsweise, als der SPD-Politiker Thilo Sarrazin in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" über die seiner Ansicht nach falsche Einwanderungspolitik, integrationsunwillige muslimische Migranten und die Gefahr, die dem Lande drohe, wetterte. Das Buch war wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerlisten und dominierendes Thema in allen Talkshows. Bald verselbstständigte sich die Debatte, da wurde plötzlich über gelungene und verfehlte Integration und "gute" und "schlechte" Zuwanderer geredet. Bei vielen Ausländern und Deutschen mit ausländischen Wurzeln blieb ein fader Nachgeschmack zurück.
Hier wurde klar: Es geht gar nicht so sehr um Fakten, sondern um Ängste, die hochgespült werden. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration beklagt seit Jahren eine "fehlende Willkommenskultur". Geschäftsführerin Gunilla Finke kritisiert, dass man Menschen mit Migrationshintergrund sehr häufig vermittelt, "dass sie nicht wirklich dazugehören, dass sie zwar hier geboren sein, die Schule absolviert und studiert haben können - aber so richtig gehören sie noch nicht zu Deutschland."
Werben um hochqualifizierte Ausländer
Das führt zum heutigen Dilemma: Ein Teil der Bevölkerung hat Angst vor Einwanderung, während Boom-Branchen wie die IT-Industrie händeringend nach hochqualifizierten Ausländern suchen. Dass so wenige bisher eine Greencard beantragt haben und auch für die künftige Bluecard keineswegs Schlange stehen, hat natürlich etwas mit der deutschen Sprache zu tun. Aber eben nicht nur. "Unsere Zuwanderungsregelungen werden als restriktiv wahrgenommen", stellt Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik fest. "In der Realität würden diese Regelungen mehr Zuwanderung erlauben, als wir eigentlich haben. Aber das wird so nicht wahrgenommen. Und es kommen eben weniger Leute, als wir eigentlich bräuchten."
Seit wann ist das so? In der Nachkriegszeit war Deutschland sehr erpicht auf ausländische Arbeitskräfte. Das war Mitte der 1950er Jahre, als das sogenannte Wirtschaftswunder begann und nicht genügend heimische Arbeiter da waren, um die Fabriken und Zechen zu füllen. Anwerbeabkommen wurden geschlossen, erst mit Italien, dann Spanien und der Türkei, später dann noch Marokko, Tunesien, Portugal und Jugoslawien.
Gastarbeiter mit Rückkehrgarantie?
Nach und nach bürgerte sich die Bezeichnung "Gastarbeiter" ein, was freundlich klingen, aber gleichzeitig doch betonen sollte, dass man von ihnen nach einiger Zeit erwartet, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Erwartung hegten im übrigen auch die Entsenderländer. Und selbst viele ausländische Arbeitskräfte waren mit diesem Vorsatz nach Deutschland gekommen. Aber es kam anders: 1973 verkündete die deutsche Regierung den Anwerbestopp, weil die Arbeitslosenzahlen im Zuge der Ölkrise in die Höhe geschnellt waren. Statt die Rückfahrkarte in ihre Heimatländer zu lösen, holten nun immer mehr ihre Familien nach Deutschland.
In der Politik wuchs die Angst. So notierten die Unionsparteien und die FDP in ihrer Koalitionsvereinbarung von 1982: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland. Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.“ Gegen die abschreckenden Parolen der etablierten Parteien formierte sich eine Toleranz predigende Multikulti-Bewegung im linken Spektrum - bis weit in die 1990er Jahre wurde heftig hin- und herdiskutiert.
Integration rückt in den Fokus
Dabei fachten nach der Wiedervereinigung weniger die "Gastarbeiter" die Debatte an als zwei neue Zuzüglergruppen: Flüchtlinge, vor allem aus dem zerfallenden Jugoslawien, sowie Hunderttausende Deutschstämmige aus Osteuropa und Zentralasien, die als sogenannte Spätaussiedler direkt den deutschen Pass bekommen konnten.
Der unfruchtbare Fundamentalstreit, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland ist oder nicht, wich allmählich pragmatischeren Fragen: Wie kann man die Menschen mit Migrationshintergrund besser in die Gesellschaft integrieren? Und wie kann man Zuwanderung steuern?
Regelungen mit vielen Ausnahmen
Denn dass Deutschland Zuwanderung braucht, ist mittlerweile unstrittig. Und das nicht nur, weil die Deutschen zu wenig Kinder bekommen und daher bald das Sozial- und Rentensystem unbezahlbar wird. Sondern auch, weil es an Fachkräften mangelt. Übrigens in Hochqualifikationsbereichen wie dem IT-Sektor ebenso wie im Pflegebereich, also in Krankenhäusern und Altenheimen.
Kein Wunder, dass das Zuwanderungsgesetz von 2005, das dieses Jahr novelliert wurde, als "Schweizer Käse" daher kommt, wie es Gunilla Finke ausdrückt: "Es gibt in Deutschland einen Anwerbestopp, wir wollen keine Zuwanderung. Und dann gibt es viele, viele Löcher – das sind die Ausnahmen."