Gedenken an die Opfer der Flutkatastrophe
28. August 2021"Schreien will ich zu dir, Gott, mit verwundeter Seele". Die ersten Worte, die da fast schmerzhaft durch den hohen Raum des Aachener Doms klingen, wirken wie eine Anklage. Bassbariton Thilo Dahlmann singt das, was wohl viele fühlen seit Mitte Juli. Seit jener Flutkatastrophe, die in mehreren Regionen Westdeutschlands mehr als 180 Menschen das Leben kostete und Zigtausende aus der gewohnten Lebensbahn warf: "Schreien! Schreien! Schreien! Wo warst du, Gott?"
Gut sechs Wochen nach der Flutkatastrophe haben Spitzenvertreter von Kirchen und Staat an diesem Samstag im Aachener Dom der Opfer gedacht. Es ist ein Innehalten. Es ist auch ein hochoffizieller Gottesdienst. Die Spitzen der fünf deutschen Verfassungsorgane, Bundespräsident und Kanzlerin sowie die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht, sitzen in dem über 1200 Jahre alten, achteckigen Kirchenbau.
Im Zentrum der Trauerfeier stehen die von der Flut Betroffenen sowie die Helferinnen und Helfer. Auch Religionsvertreter aus den Nachbarländern sind dabei. Ein jüdischer Vertreter spricht ein Gebet, ein Imam singt, in arabischer Sprache, einen Klagegesang.
Irgendwo hinten im Dom sitzt Bianca van der Heyden, Landespfarrerin für Notfallseelsorge der evangelischen Kirche im Rheinland. Die Seelsorgerin ist seit Mitte Juli mit den Folgen der Flut und der Sorge um die Betroffenen befasst. Der Umgang mit Katastrophen ist für sie trauriger Alltag: Schon nach dem Loveparade-Unglück in Duisburg 2010 und dem mutwillig herbeigeführten Absturz einer in Düsseldorf erwarteten GermanWings-Maschine mit 150 Menschen an Bord in Südfrankreich 2015 teilte das Leid der Verzweifelten.
Klage, Zweifel, Wut
"Für den Großteil derer, die von einer solchen Katastrophe betroffen ist, ist es wichtig, dass ein solcher Gottesdienst stattfindet und das er mit prominenter politischer Besetzung stattfindet", sagt sie vor der Trauerfeier der Deutschen Welle. Die Menschen könnten so spüren, dass sie nicht allein gelassen würden und die Gesellschaft sie sehe.
Die Seelsorgerin spricht von Halt, Sicherheit und Trost – aber auch von der Klage gegen Gott, Zweifel, Wut und der Frage: "Wo war Gott?". Nicht wenige kämen bei einer solchen Feier "zum ersten Mal nach dem Geschehen zur Ruhe".
Mit der Frage, "Wo war Gott in der Flut?" beginnt auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich-Bedford-Strohm, seine Predigt. Gott, sagt er, sei auch "mitten in den Fluten erfahrbar" gewesen. "Aber nicht als der, der auf den Flutknopf gedrückt hat, sondern als der, der mit den Opfern geschrien und gelitten hat, und der sie getragen hat in den Abgründen, die sich aufgetan haben."
So sehr die Predigt und die gesamte Feier auch religiös und geistlich geprägt waren, Bedford-Strohm sprach auch eine wissenschaftliche und politische Erkenntnis aus: "Die Folgen des von Menschen gemachten Klimawandels sind bei uns angekommen".
Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (Dbk), thematisierte das Leid - und die "übergroße Hilfsbereitschaft". "Trauer um die verlorenen Menschen braucht Zeit, und es braucht unfassbar viel Kraft für Wiederaufbau und Neubeginn."
Wie gedenkt man der Opfer der Katastrophe? Im Dom flackern viele Kerzen. Die Kirchenmänner sind bewährte Redner. Die musikalische Gestaltung lässt Zeit zum Nachdenken. Aber weit stärker als all das sind die "Testimonials", die Berichte von zwei Betroffenen der Flut und einer Notfallseelsorgerin. Sie sprechen von der Todesangst, von der bleibenden Verzweiflung, der "Angst vor dem Vergessen werden".
Der Bundespräsident mahnt
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier greift in seiner Rede das "Vergesst uns nicht" der von der Flut Getroffenen auf: "Den Betroffenen in den Hochwassergebieten möchte ich heute sagen: Wir, die Menschen überall in Deutschland, fühlen mit Ihnen. Sie sind nicht allein."
Und er bekräftigt: "In der Stunde der Not sind wir ein starkes, solidarisches Land. Wir helfen einander. Wir stehen zusammen." Die Menschen in den Katastrophengebieten, mahnt Steinmeier, bräuchten Hilfe und Aufmerksamkeit "auch dann noch, wenn die Fernsehkameras abgebaut sind und längst andere Nachrichten die Schlagzeilen beherrschen".
Steinmeier wird grundsätzlich, nennt die verheerenden Regenfälle und die "brutale Hitze und Feuersbrünste" in Südeuropa. "Die Folgen des Klimawandels haben auch uns in Europa erreicht – daran kann es keinen Zweifel geben", sagt er. "Wir müssen den Klimawandel mit aller Entschlossenheit bekämpfen! Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!"
Es ist, mitten in Wahlkampfzeiten, eine politische Mahnung. Die Politik dürfe nicht zur Tagesordnung zurückkehren. "Wir müssen Lehren ziehen aus dieser doppelten Katastrophenerfahrung und uns besser vorbereiten für künftige Krisen – das sind wir nicht nur den Opfern des Hochwassers schuldig." Es gehe "um unsere Zukunft und um die unserer Kinder".