Deutschland: Coronavirus verschärft Medikamentenengpass
3. März 2020Auch für Lieferengpässe bei Pillen und Tabletten gibt es in Deutschland ein Bundesamt, und das stellte unlängst fest, 239 Medikamente seien im Land nicht lieferbar. Das aber war im vergangenen Jahr, Anfang Oktober, als die meisten in Europa von Wuhan und Hubei noch nie etwas gehört hatten und Corona noch allein eine Biermarke war.
Mittlerweile spricht das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) von 277 Medikamenten mit Lieferengpässen, und das gilt für so weit verbreitete Arzneien wie Blutdruck- oder Schmerzmittel, Antidepressiva und Antibiotika. Nicht jeder Lieferengpass ist gleich auch ein Versorgungsengpass, heißt es dazu bei Experten. Aber der Mangel könnte durchaus zunehmen. Ob die Gründe dafür mit COVID-19 zu tun haben werden, das allerdings scheint nicht ausgemacht.
Die Warnungen vor Engpässen sind alt. Die Zahlen, mit denen man das Problem fassen kann, lagen ebenfalls schon vor der Corona-Krise auf dem Tisch. Zuallererst einmal: Die Pharmabranche ist ein gigantisches Geschäft. Allein die zehn Größten der Branche weltweit kamen laut Handelsblatt nach Schätzungen des Finanzdienstes Bloomberg im letzten Jahr auf Umsätze von mehr als 455 Milliarden Dollar. In diesem Jahr sollten demnach die Gewinne geschätzt auf 138 Milliarden Dollar steigen. Das war vor der Corona-Krise. Eine weitere wichtige Zahl: 90 Prozent aller Wirkstoffe für sogenannte Generika werden in China hergestellt. Generika sind Arzneimittel, für die es keinen Patentschutz mehr gibt. Aber auch noch geschützte Medikamente sind nach diesen Schätzungen aus der Schweiz zu 50 Prozent von Wirkstoffen aus China abhängig.
Das Rabattsystem und die Folgen
Aber nicht nur die Wirkstoffe, auch die Generika selbst werden zunehmend in Asien hergestellt, etwa in Indien; aber auch nach Osteuropa ist die Produktion verlagert worden. Die Gründe dafür sind durchweg hausgemacht, und immer wieder taucht dabei das Stichwort Rabattsystem auf. Die in Deutschland gewichtigen Krankenkassen handeln dabei mit den Herstellern in bestimmten Abständen die Preise für die Arzneimittel aus - im Gegenzug garantieren sie einer Pharmafirma, ein bestimmtes Medikament nur von dieser zu beziehen. Dadurch sind für Kassen und Patienten die Preise gesunken. Der entstehende Kostendruck für die Hersteller aber ist immens.
Die Folge: Verlagerung der Produktion weg aus Hochlohn-Ländern wie Deutschland. Die letzte größere deutsche Fabrik für Antibiotika wurde vor gut zwei Jahren in Frankfurt-Höchst geschlossen. Solche Fabriken aufzubauen, ist nicht so einfach. Die Produktion von Arzneimitteln braucht bis zu zwanzig verschiedene Schritte und dauert dabei acht bis 14 Monate. Manchmal wird nur noch das Endprodukt in Westeuropa in sogenannte Blister gefasst und verpackt.
Die Wirkstoffe aber kommen meist aus China. In der vom Coronavirus lahmgelegten Provinz Hubei, so berichtete jetzt der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, sitzen die Hersteller von Wirkstoffen für 136 verschiedenen Arzneimittel. Dazu gehören auch Antibiotika.
Wirkstoffe in China und Indien werden knapp
Zu Engpässen muss diese Tatsache allein nicht führen - auch wenn die Lieferketten bis auf den Cent genau durchgetaktet und entsprechend anfällig sind. Aber auch diese Lieferketten haben ihre Zeiten. Allein ein Schiffstransport zwischen Schanghai und Rotterdam braucht etwa vier Wochen. Außerdem schätzen Experten wie Axel Müller vom Schweizer Verband Intergenerika, dass die Hersteller nötige Wirkstoffe für rund drei Monate gelagert haben.
Ernst wird es also erst, so Eric Bouteiller, Pharma-Experte in Frankreich, "wenn wir einen Ausfall von einem halben Jahr haben sollten". Erschwerend kommt hinzu, darauf verweist man bei der Beratungsfirma Roland Berger gegenüber DW, dass es an Transparenz bei den Lieferketten fehle. So etwas wird wie in der Corona-Krise zum Problem. Jedenfalls befindet auch Morris Hosseini von Roland Berger: "Wenn sich die Situation nicht entspannt, werden die Vorräte an wichtigen Wirkstoffen auch in China oder Indien knapp; der jeweilige Binnenmarkt wird dann Vorrang gegenüber den Exportmärkten haben."
Wenn. Falls. Ob. Auch beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bleibt man eher vage und möchte sich vor Zuspitzungen hüten: Nach allem, was man derzeit an Daten und Informationen aus der vor allem betroffenen chinesischen Provinz Hubei habe, so BfArM-Sprecher Maik Pommer, sei es für Deutschland "nicht marktrelevant", was dort produziert werde - oder eben nicht produziert wird.
Experte spricht von "Systemversagen"
Derzeit mühen sich die Akteure, ein Meldesystem für Pharmaunternehmen und Großhändler bei Lieferengpässe in Deutschland durchzusetzen. Aber ob das BfArM auch den Export knapper Arzneimittel verbieten kann, wie es immer wieder gefordert ist, auch das ist so klar noch nicht. Zu den Verquertheiten des Systems gehört nämlich auch, dass aus Deutschland Medikamente in andere Länder ausgeführt werden, weil sie hier relativ billiger sind als anderswo. Die Händler verdienen an der Preisdifferenz, das Arzneimittel fehlt dann womöglich in einem deutschen Krankenhaus.
Von einem "Systemversagen" sprach denn auch Frank Dörje, der für die Krankenhaus-Apotheke der Uniklinik Erlangen verantwortlich ist, gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit. Auch das war schon im vergangenen Oktober - Monate vor Ausbruch der Corona-Krise.
Eines ändert sich derzeit allerdings: Die Frage, wie man mit möglichen Medikamenten-Engpässen umgehen soll, wird dringlicher. "Wenn die Rahmenbedingungen dazu führen, dass wir von China komplett abhängig werden", so Pharma-Experte Hosseini zur DW, "dann sollten wir in Europa diese Rahmenbedingungen ändern." Voraussetzung bleibe aber, dass "eine wirtschaftliche Produktion in Europa für die Pharmahersteller ermöglicht wird." Eine konkrete Idee: "Wenn ein Pharmaunternehmen etwa eine Antibiotika-Produktionsanlage in Deutschland betreibt, wird er dann dafür vergütet, unabhängig vom Endpreis des Arzneimittels." Das würde die Versorgung sicherer machen.
Auch bei PolitikerInnen klingt das ähnlich: "Wir werden uns Gedanken machen müssen, wie wir insbesondere versorgungsrelevante Wirkstoffe wieder vermehrt in der EU produzieren können", so etwa Kordula Schulz-Asche, Gesundheitsexpertin bei den deutschen Grünen gegenüber DW. "Die Kosten sind hier natürlich ein entscheidender Faktor." In einem grünen Grundsatzpapier vom Januar steht, man brauche da "Anreize". Wie genau das gehen soll? Antworten sollten auch in der Zeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gesucht werden. Die beginnt im Juli.