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Lockdown für Depressive besonders belastend

10. November 2020

Angst vor Ansteckung, Jobverlust, Isolation: Ein Lockdown ist für viele Menschen schwer zu ertragen. Depressiv Erkrankte leiden besonders unter fehlenden Tagesstrukturen und Bewegungsmangel.

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Coronavirus viele Menschen aufgrund neuer Regierungsrichtlinien zwingt, zu Hause zu bleiben
Bild: picture-alliance/Newscom/R. Ben-Ari

Es ist nicht nur die Angst vor Ansteckung und Krankheit. Inzwischen wissen wir, was verschärfte Corona-Maßnahmen oder ein erneuter Lockdown bedeuten: Unser vertrautes Leben kommt zum Erliegen, wir können Freunde oder Verwandte kaum noch sehen, wir sorgen uns um unseren Job oder fürchten finanzielle Einbußen.

Viele fühlen sich eingesperrt und einsam, die Welt wird erschreckend klein und freudlos, das gesellige Beisammensein, die Besuche von Kultur- oder Sportveranstaltungen fehlen.  Wir langweilen uns oder leiden unter Bewegungsmangel oder dem beengten Zusammenleben.

Was für alle schwer zu ertragen ist, das ist für Menschen in einer Depression besonders belastend. Depressiv Erkrankte haben zwar nicht mehr Angst, sich mit dem Coronavirus anzustecken als die Gesamtbevölkerung (43% versus 42%). Sie erleben aber den Lockdown im Vergleich als deutlich belastender (74% vs. 59%). So leiden Betroffene fast doppelt so häufig unter der fehlenden Tagesstruktur (75% vs. 39%). In der häuslichen Isolation bewegen sie sich zu wenig (80% vs. 62%) und im Vergleich zu Gesamtbevölkerung bleiben depressiv Erkrankte viel häufiger tagsüber im Bett (48% vs. 21%).

Mann zu Hause in grüblerischen Gedanken
Lange Bettzeiten und häufiges Grübeln - der Teufelskreis beginntBild: Imago Images/M. Eichhammer

Dies zeigt das vierte "Deutschland-Barometer Depression" der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, die sich um eine bessere Versorgung depressiv erkrankter Menschen und um eine Reduktion der Zahl der Suizide in Deutschland bemüht. Für das diesjährige Barometer wurden im Juni/Juli insgesamt 5178 Personen zwischen 18 und 69 Jahren aus einem repräsentativen Online-Panel befragt.

Infografik - Depression: Belastungen durch Coronavirus

Bewegungsmangel und lange Bettzeiten sind depressionsverstärkend

"Menschen in einer Depression sind hoffnungslos und erschöpft. Eine fehlende Tagesstruktur erhöht das Risiko, dass sich Betroffene grübelnd ins Bett zurückziehen. Lange Bettzeiten können die Depression jedoch weiter verstärken. Ein Teufelskreis beginnt", so Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Professor an der Goethe-Universität Frankfurt/Main.

"Umgekehrt ist Schlafentzug erstaunlicherweise ein Behandlungsverfahren bei Depressionen: Wenn die Menschen in der Klinik gebeten werden, die zweite Nachthälfte wachzubleiben, dann merken über 60 Prozent zu ihrer Überraschung, dass es plötzlich besser wird und die seit vielen Wochen bestehende Depression abfällt. Allerdings nur bis zum nächsten Schlaf", erläutert Ulrich Hegerl.

Eine ältere Frau mit Mundschutzmaske sitzt in S-Bahn
Bei jedem zweitem depressiv Erkrankten gingen die strikten Corona-Maßnahmen zulasten der BehandlungBild: picture-alliance/dpa/Weber/Eibner

Dass die Corona-Maßnahmen und die häusliche Isolation an Depression Erkrankten besonders zu schaffen machen, zeigten auch Stichproben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe aus den ersten Wochen des Lockdowns.

So gaben die Befragten an, sich einsam und isoliert zu fühlen (73% im Vergleich zu 34% der Gesamtbevölkerung), oft zu grübeln (89% vs. 41%), es fehle der innere Antrieb (84% vs. 39%), ihr Schlaf habe sich verschlechtert (63% vs. 26%), sie hätten sich weitgehend zurückgezogen (67% versus 43%), sie langweilten sich (55% vs. 33%), sorgen sich um die berufliche Zukunft (41% vs. 28%), sie empfanden die Mitmenschen als rücksichtsloser (57% vs. 40%). Es komme häufiger zu Konflikten und Streit (43% vs. 18%).

Schlechtere Versorgung von psychisch Erkrankten durch Corona

Die strikten Corona-Maßnahmen gingen auch zulasten der Behandlung, die im ersten Lockdown bei jedem zweiten Erkrankten (48%) ausfiel. Bei jedem zehnten Betroffenen konnte sogar ein geplanter Klinikaufenthalt nicht stattfinden. Die verschlechtere medizinische Versorgung "betrifft Millionen von Menschen, wir haben 5,2 Millionen Betroffene in Deutschland. Und wenn von den Befragten mit Depressionen 56 Prozent sagen, ihre Versorgung habe sich verschlechtert und wichtige Behandlungen seien ausgefallen, dann ist das etwas, was Grund zu sehr großer Sorge ist. Denn dann kann es durchaus sein, dass wir durch die Maßnahmen mehr Schaden anrichten, als wir vermeiden", so Hegerl.

"Wir haben das gleiche Problem in anderen Bereichen der Medizin, dass Leute zu spät nach Herzinfarkt oder nach Schlaganfall zum Arzt gegangen sind (…) Man darf den Blick  nicht verengen auf das Infektionsgeschehen, sonst wird man nichts lernen und Fehler machen, wenn die nächste Grippewelle kommt, Corona hochflammt oder ein anderes Virus kommt. Hier zu lernen, ist eine Pflicht und da fehlt mir die offene Diskussion", gibt der Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe zu Bedenken.

Kann Telemedizin das direkte Gespräch ersetzen?

Depressiv erkrankte brauchen Gesprächspartner, um mit ihrer Situation besser zurecht zu kommen. Entsprechend haben Ärzte und Psychotherapeuten verstärkt Videosprechstunden oder telefonische Behandlungen angeboten, die sie jetzt auch bei den Krankenkassen abrechnen können. Ein Angebot, von dem 14 Prozent der Patienten - viele zum ersten Mal - Gebrauch machten. Davon waren laut Befragung 82 Prozent zufrieden mit den Telefon- und Video-Sprechstunden.

Eine Frau sieht aus dem Fenster
Digitale Angebote können helfen, aber nichts ersetzt das direkte Gespräch mit einem Arzt oder PsychotherapeutenBild: Imago Images/Westend61

Allerdings nutzen die meisten Patienten die digitalen Angebote eher für organisatorische Dinge, um Termine zu vereinbaren, Rezepte zu bestellen oder eine Krankmeldung anzufordern. Das direkte Gespräch aber können die digitalen Angebote für viele depressiv Erkrankte nicht ersetzen. Eine digitale Sitzung beim Psychotherapeuten können sich nur 44 Prozent der Patienten vorstellen.

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Während die Gesamtbevölkerung (58 %) dem veränderten Leben im ersten Lockdown auch Positives abgewinnen konnte (z.B. mehr Zeit für die Familie, den Frühling bewusster erleben), sahen auch 31% der depressiv Erkrankten den Lockdown als willkommene Auszeit.

Ulrich Heger rät, dem Ganzen auch etwas Positives abzugewinnen. "Wir haben ja nicht nur depressiv Erkrankte, die jetzt eine schwierigere Situation haben. (…) Damit umzugehen ist etwas, was man ein Stück weit lernen muss. Es gibt Menschen, die das ins Positive wenden und die Krise als eine Chance sehen. Um vielleicht etwas Neues anzupacken und einen Keim zum Guten sähen. Manche geben an, dass sie Hobbies neu aufleben lassen haben, dass sie die Entschleunigung mancher Abläufe als angenehm empfunden haben. Dass man sich mal wieder mehr auf das Wesentliche konzentriert, alte Freundschaften wieder aufleben lässt." 

Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/ . In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund