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Politik

Ungarn - Geschäft oder Pressefreiheit?

Stephan Ozsváth
30. September 2020

Ungeachtet der Kritik aus Brüssel an der Politik der Orbán-Regierung fühlen sich ausländische Konzerne wohl in Ungarn. Deutschen Unternehmen wird jetzt vorgeworfen, die Medienvielfalt im EU-Land zu untergraben.

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Verhüllte Audis warten am Standort Györ in Ungarn auf ihre Auslieferung
Audi Produktion in Györ, UngarnBild: AP

Gergely Márton, leitender Redakteur der unabhängigen Budapester Wochenzeitung HVG, schickt ein Foto mit einer der jüngsten Ausgaben. Auf der Rückseite wirbt der deutsche Autobauer BMW für einen Neuwagen, eine ganze Seite Werbung. Mittlerweile kann sich auch die ungarische Elite solche Autos leisten, warum also keine Anzeige in der größten Budapester Wochenzeitung schalten?

Dass deutsche Firmen wie BMW bei einem unabhängigen Medium wie HVG werben, sei eher "untypisch", meint dagegen der Redakteur. Denn "der Staat ist der größte Player am Anzeigenmarkt und Emissäre der Regierung lassen große Firmen verstehen, es sei klug, da Werbung zu schalten, wo Regierungswerbung zu sehen ist". Es sei dagegen"richtig dumm", dort zu werben, wo die Regierung keine Anzeigen schalte, meint er. Es gebe Anzeichen dafür, dass die Unternehmen die Ratschläge der Regierung Orbán befolgten.

Geld oder Pressefreiheit ?

"Ob sie Anzeigen in unabhängigen Medien schalten", überlegten sich Firmen sehr gut, bekräftigt auch Csaba Lukács vom Wochenblatt Magyar Hang. Er selbst sei sich mit dem Vertreter eines deutschen Autobauers einig gewesen, dass dessen Produkte und die Leser von Magyar Hang gut zusammen passten, aber "da die Regierung den Bau einer neuen Fabrik fördert, wolle man nichts riskieren". Bei BMW hieß es, der zuständige Fachsprecher werde sich äußern, die Antwort steht aus. Das Unternehmen baut bei Debrecen ein milliardenschweres Werk.

Csaba Lukács
Csaba Lukács, Magyar Hang - das "Magazin der Überlebenden"Bild: DW/S. Ozsváth

Audi - seit den 1990er Jahren in Györ - teilt mit: Ob und wie Anzeigen in ungarischen Medien geschaltet werden, werde "aufgrund von Zielgruppenanalysen und Kampagnenplanungen" beim Generalimporteur Porsche Hungaria entschieden. Mercedes in Kecskemét wollte erst die Antwort aus der deutschen Konzernzentrale abwarten, auch sie steht aus. Die deutschen Autobauer haben Milliarden in Ungarn investiert und profitieren von staatlichen Hilfen und niedrigen Steuern. Das Zugpferd Autoindustrie erwirtschaftet laut Statistikamt mindestens 10 Prozent des ungarischen BIP. Das schafft Jobs und hält Orbáns Wähler bei Laune.

Das Beispiel Telekom

Journalist Lukács beklagt doppelte Wertestandards bei den Unternehmen. Der Blattchef von Magyar Hang erinnert an die Telekom, der einst das reichweitenstarke Portal Origo.hu gehörte. Dessen Reporter hatten 2014 ein Regierungsmitglied mit ihren Recherchen unter Druck gebracht. Am Ende "haben sie es Fidesz-nahen Oligarchen überlassen und sich für das Geschäft entschieden", sagt Lukács. Aus Origo.hu wurde mithilfe des Geschäftsführers Miklós Vaszily ein Propaganda-Kanal der Regierung, die kritischen Köpfe mussten gehen.

Ungarn Magyar Telekom Logo
Magyar-Telekom-LogoBild: Reuters/B. Szabo

Die Telekom bekam den Zuschlag für den weiteren Ausbau des Breitband-Mobilnetzes in Ungarn. Politischen Druck habe es nicht gegeben, beteuerte die Bonner Konzernzentrale, Pressefreiheit sei dem Unternehmen wichtig. "In der Unternehmenskommunikation ist immer die Rede von Demokratie, Vielfalt und Gleichheit", winkt Lukács ab, "aber jedes Unternehmen will am Ende auch Geschäfte machen". Auch Lukács kennt den Appetit der Budapester Regierung auf Medien. Früher war er bei der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet, 2017 wurde sie dem Medienimperium der Regierungspartei Fidesz einverleibt. Lukács und andere Redakteure gründeten Magyar Hang, das "Magazin der Überlebenden".

Verzerrter Anzeigenmarkt

Ungarns Medienszene ist voller "Überlebender" des ungarischen Medienkrieges. Szabolcs Dull hat als Redakteur erlebt, wie Origo.hu auf Linie gebracht wurde. "Die deutsch-ungarischen Beziehungen sind für beide Seiten sehr wichtig", betont er, Bauernopfer seien eben die Medien. Szabolcs Dull wurde Chefredakteur von Index.hu, dem größten Online-Portal. Dort traf er den alten Bekannten Miklós Vaszily wieder, der sich bei der Werbetochter eingekauft hatte. Auch Index.hu wird jetzt umgedreht, Dull musste gehen, weil er für die Unabhängigkeit der Redaktion gekämpft hatte. Die kündigte aus Solidarität und bringt jetzt das neue Online-Portal telex.hu an den Start, das unabhängig von Oligarchen sein soll.

Szabolcs Dull
Index-Chefredakteur Szabolcs Dull wurde im Juli 2020 entlassenBild: Reuters/B. Szabo

Die Regierung Orbán setze den Hebel der staatlichen Anzeigen so ein, "dass es auf den Portalen, in den Zeitungen, die die Regierung nicht mag, keine staatlichen Anzeigen" gibt, erklärt Dull der DW. Die sind aber die Leitwährung auf dem Werbemarkt und Magnet für andere Werbetreibende. "Die Regierung überschüttet die ihnen nahestehenden Medien mit Geld", beschreibt auch Zsolt Kerner das Prinzip Zuckerbrot und Peitsche. "Es gibt aber auch eine Art wirtschaftliche Selbstzensur", sagt der Redakteur des unabhängigen Onlineportals 24.hu, "wo die Regierung offensichtlich nicht gemocht wird", schalteten große Unternehmen keine Anzeigen. Für unabhängige Medien bleiben nach Berechnung der Medien-NGO Mérték nur etwa 20 Prozent vom Werbekuchen übrig, der Großteil geht an die regierungsnahen Medien.

"Empfehlungen" aus dem Hintergrund?

Im Jahr 2017 gab die Regierung allein für die öffentlich-rechtliche Medienholding MTVA rund 300 Millionen Euro aus, hat Mérték ausgerechnet. Nicht publizistischer Erfolg steuere dabei die Geldflüsse, sondern politische Loyalität, meint Miklós Hargitai, Chef des Journalistenverbandes MUÓSZ. "Es gibt Veröffentlichungen, hinter denen viel Geld steht, die aber auf das Desinteresse der Nutzer stoßen", sagt er. "Das betrifft das staatliche Fernsehen, die etwa 500 Medien unter dem Dach der Stiftung KESMA und die Regionalblätter", also die regierungsnahen Medien. Auf der anderen Seite stünden unabhängige Redaktionen und Journalistenprojekte, "die an ihren finanziellen Möglichkeiten scheitern". So ging es auch Attila Babos. Der Journalist aus dem südungarischen Pécs hatte vor einigen Jahren das unabhängige Online-Portal SzabadPecs.hu gegründet, nachdem er beim örtlichen Regionalblatt gefeuert worden war. Die kleine Redaktion hatte sogar einen Investor aufgetan. "Alles war besprochen, es gab ein klares Ja", erzählt der Journalist, "dann gab es ganz plötzlich einen Rückzieher".

Agnes Urban
Agnés Urbán ist Professorin an der Corvinus-Universität in BudapestBild: mertek.eu

Die Regierung müsse da gar keine "Empfehlungen" aussprechen oder drohen, ist die Budapester Medienexpertin Ágnes Urbán überzeugt: "In diesem Land weiß jeder, welche Medien loyal zur Regierung stehen und welche ausgesprochen regierungskritisch sind." Dort seien die Werbetreibenden "etwas vorsichtiger". Das regierungskritische Klubrádió aus Budapest, dem jetzt von der Medienbehörde die Lizenz entzogen werden soll, habe als erstes darüber berichtet, "dass große internationale Firmen sich nicht trauen, dort zu werben, weil sie den Konflikt mit der Regierung scheuen", sagt die Mérték-Mitarbeiterin. Die politische Führung in Budapest behauptet, mit all dem nichts zu tun zu haben. "Die Regierung befasst sich nicht mit Fragen des Medienmarktes", teilte der Regierungssprecher auf DW-Anfrage knapp mit.

EU-Kommission soll handeln

Reporter ohne Grenzen beobachtet die abnehmende Medienvielfalt in Ungarn mit Sorge. "Über die einseitige Vergabe von Werbegeldern wird versucht, Medien politisch zu steuern", sagt Christian Mihr, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Reporter ohne Grenzen.

Christian Mihr Geschäftsführer Reporter ohne Grenzen
Christian Mihr, Reportert ohne GrenzenBild: DW/S. Padori-Klenke

Auch deutsche Firmen hätten dabei in der Vergangenheit "eine unrühmliche Rolle gespielt", sagt er mit Blick auf den Fall Telekom. Ein deutsches Unternehmen dürfe sich aber mit dem "autoritären Gestus der Regierung Orbán" nicht "gemein machen", findet Mihr, der die EU-Kommission in der Pflicht sieht. Pressefreiheit und Rechtsstaatsmechanismus müssten miteinander verknüpft werden, fordert er. Im Pressefreiheits-Index von Reporter ohne Grenzen fiel Ungarn in den letzten zehn Jahren von Platz 23 auf Platz 89 von 180 möglichen.