Deutsche Parteien uneins über Türkei-Verhandlungen
1. Oktober 2005Als Chance sehen es die einen, als Bedrohung die anderen - beim Thema EU-Beitritt der Türkei liegen die Positionen der deutschen Parteien weit auseinander. Auf der einen Seite stehen Sozialdemokraten und Grüne, die sich in ihrer siebenjährigen Regierungszeit für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stark gemacht haben. Die konservativen Parteien CDU und CSU hingegen wollen Ankara am liebsten gar nicht an den Verhandlungstisch vorlassen.
Schröder: 10 bis 15 Jahre Verhandlungen
In seiner letzten Regierungserklärung zur Europapolitik vor der Bundestagswahl wandte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder noch einmal an die Skeptiker: "Verhandlungen über einen Beitritt dieses Landes werden 10 bis 15 Jahre dauern. Das Verhandlungskonzept sieht vor, dass die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt bis auf Null begrenzt werden kann. Es sieht vor, dass jede der beiden Seiten jederzeit die Verhandlungen aussetzen oder abbrechen kann. Damit ist das ein Verhandlungskonzept, das ein angemessenes Instrument zum Erreichen dieses Zieles ist, ohne ein Mitgliedsland der EU in unüberwindbare Schwierigkeiten zu bringen, Deutschland zumal."
Merkel: Europa kann das derzeit nicht verkraften
Schwierigkeiten für Deutschland, für die gesamte Europäische Union befürchtet Angela Merkel, sollte die Türkei aufgenommen werden. Die CDU-Chefin und Kanzlerkandidatin der Union lehnt eine Vollmitgliedschaft der Türkei ab - und so steht es auch im Wahlprogramm. "Wir begründen das vor allem auch mit der Frage: Was kann die bestehende EU in ihrer augenblicklichen Zusammensetzung leisten? Wir sind 25 Länder, wir bekommen mit Rumänien und Bulgarien zwei neue Mitglieder. Und insoweit ist die Frage, ob die Integrationskraft der bestehenden EU leidet, eine der zentralen Fragen. Ich glaube, dass Europa das zurzeit nicht verkraften kann, und deswegen das Angebot einer privilegierten Partnerschaft", sagt Merkel. Privilegierte Partnerschaft - so nennt die CDU ihr Modell einer engen Anbindung der Türkei an die EU, ohne dass das Land Vollmitglied wird.
EU-Grenzen bis Anatolien und Kleinasien
CDU/CSU bleiben aber dabei: Der Beitritt der Türkei würde die EU politisch und wirtschaftlich überfordern. Gerd Müller, der europapolitische Sprecher der CSU im Bundestag, meint, die Vertiefung und die parallele Erweiterung der Europäischen Union sei die Lebenslüge der Europäischen Union. "Man kann nicht zur politischen Union mit einer europäischen Verfassung vorstoßen, wesentliche Teile der Staatlichkeit in den EU-Staaten auf Brüssel übertragen und auf der anderen Seite die europäischen Grenzen bis nach Anatolien, hinein nach Kleinasien verschieben", so Müller.
Sicherheitszuwachs für Deutschland und Europa?
Doch gerade das halten Grüne und Sozialdemokraten für die richtige geopolitische Strategie, um Europa sicherer zu machen - eine Haltung, die Bundeskanzler Schröder nach den New Yorker Anschlägen vom 11. September 2001 noch nachdrücklicher vertreten hat als zuvor: "Wenn wir es dadurch schaffen, in der Türkei einen nicht-fundamentalistischen Islam mit den Werten der westlichen Aufklärung zu verbinden, dann haben wir in Deutschland und Europa einen Sicherheitszuwachs, der gar nicht aufzuwiegen ist." Aber auch den Sozialdemokraten und Grünen ist klar, dass die Türkei noch lange nicht reif für den Beitritt ist - trotz der Reformbemühungen der türkischen Regierung.
Roth: Folter verfolgen und bestrafen
Neue Gesetze allein reichten nicht, sagt Grünen-Chefin Claudia Roth. "Auf dem Papier sind wirklich wichtige Gesetzespakete verabschiedet worden, aber jetzt geht es um die konkrete Umsetzung, vor allem im Bereich 'Null-Toleranz gegen Folter und Misshandlung'." Es müsse durchgesetzt werden, dass das Folterverbot nachhaltig eingehalten werde, und dass potenzielle oder tatsächliche Folterer verfolgt und bestraft werden, so Roth. Die Tür zur EU bleibt aber nur so lange geöffnet, wie die Türkei die Reformen weiter vorantreibt und die Vorgaben aus Brüssel erfüllt - in diesem Punkt sind sich alle Parteien einig.
Türkei-Thema in einer großen Koalition
Zwar ist die CDU in Brüssel mit ihrem Anliegen gescheitert, die privilegierte Partnerschaft als mögliches Verhandlungsziel der EU mit der Türkei festzuschreiben. Die Christdemokraten halten aber grundsätzlich an diesem Konzept fest. Deshalb wird der Türkei-Beitritt in einer möglichen großen Koalition mit den Sozialdemokraten wieder auf die Tagesordnung landen - spätestens dann, wenn die ersten Schwierigkeiten in den Beitrittsverhandlungen auftauchen.