Deutsche Hilfe für Musiker in Afghanistan
15. November 2021Über einhundert afghanische Musikstudenten und einige ihrer Familienmitglieder sind in Sicherheit. Anfang Oktober wurden sie nach Portugal ausgeflogen und erhielten dort Asyl. Bis zur Machtübernahme durch die Taliban studierten sie am 2010 gegründeten "Afghanistan National Institute for Music" (ANIM) in Kabul. Während die Musikerinnen und Musiker in Sicherheit sind, sehen jene, die sich derzeit weiterhin in Afghanistan aufhalten, einer unsicheren Zukunft entgegen.
Sie bangten um ihr Leben, sagt Tiago de Oliveira Pinto, Inhaber des Lehrstuhls für "Transcultural Music Studies" an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar. Die Taliban hätten der Musik den Kampf angesagt. "Aber die musikalische Tradition eines Landes kann man natürlich nicht so einfach zerstören. Dazu wäre es nötig, alle diejenigen zu töten, die diese Kultur am Leben halten, eben auch die Musiker.
Genau das fürchteten vor allem die bekannten Musiker des Landes, so Pinto. "Sie sind im Land sehr bekannt, jeder kennt sie. Darum verstecken sie sich." Er erhalte immer wieder Berichte, dass einzelne Personen aus den Häuser herausgeholt würden und dann verschwänden. "Entsprechend groß ist die Angst".
Mord und Vandalismus
Pinto erinnert an den populären Sänger Fawad Andarabi. Wenige Tage nach ihrer Machtübernahme suchten Talibankämpfer ihn in seinem Haus auf, entführten und erschossen ihn. Solche Verbrechen lähmten das musikalische Leben des Landes. "Im Augenblick wird in Afghanistan in keiner Weise Musik betrieben. Auch im privaten Raum vermeidet man das. Selbst Musik zu hören, ist verboten. Denn selbst wenn man nur auf dem Handy Musik hört, kann man Probleme bekommen."
Das Nationale Musikinstitut ist Medienberichten zufolge derzeit verwaist. Die Klassenräume sind leer, der Campus werde von Milizen des mit den Taliban verbündeten Haqqani-Netzwerks kontrolliert. Er selbst habe Bilder aus dem Inneren des Instituts erhalten, sagt Pinto. "Da konnte man zerstörte Instrumente sehen, etwa einen Flügel, der mit einer Axt zerschmettert worden war. Und natürlich auch die traditionellen Instrumente: Tablas mit durchstochenem Fell und dergleichen. Das waren erschreckende, brutale Bilder."
Initiative von Regierung und Hochschule
Mit den Musikern ist zugleich auch das musikalische und damit ein Teil des kulturellen Erbes Afghanistans bedroht. Beim Stichwort kulturelles Erbe denke man zunächst meist an materielle Hinterlassenschaften wie etwa die bereits im Jahr 2001 von den Taliban zerstörten Buddha-Statuen von Bamiyan, sagt der ehemalige Präsident des Goethe-Instituts, Klaus-Dieter Lehmann, im DW-Interview. "Dabei ist der immaterielle Teil dieses Erbes natürlich auf ganz eigene Weise wichtig, da er sich im unmittelbaren Leben der Menschen niederschlägt. Und dieser Teil ist in Afghanistan jetzt unmittelbar gefährdet, da die Musik von den Taliban ganz offenbar verboten wurde."
Musikinstrumente und Musizieren seien gleichermaßen geächtet, so Lehmann. "Darum ist nicht auszuschließen, dass derzeit ein großer Teil der afghanischen Identität der Kultur verloren geht", sagt der Wissenschaftler, der sich derzeit zusammen mit de Oliveira Pinto für die Rettung dieses Erbes engagiert und sich in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt um die Ausreise von Musikern bemüht.
Rettung von Archiv-Schätzen
Einen Vorgeschmack von ihrer völligen Missachtung der Musik gaben die Taliban bereits während ihrer ersten Herrschaftszeit in den Jahren 1996-2001, als sie einen Teil historischer Aufnahmen afghanischer Musik zerstörten. Rund 30.000 analoge Aufnahmen blieben aber im Archiv von Radio TV Afghanistan (RTA) in Kabul erhalten, darunter Aufzeichnungen, die aus den 1950er-Jahren datieren.
Damit nicht auch diese Aufnahmen noch zerstört werden, begannen Wissenschaftler des an der Weimarer Musikhochschule 2014 gegründeten "Afghanistan Music Research Center" das RTA- Archiv zu erschließen und zu sichern.
"Dabei geht es darum, von den Aufnahmen eine Backup-Sicherung herzustellen und sie außerhalb von Afghanistan zu sichern", erläutert Klaus-Dieter Lehmann das Vorgehen der Initiative. "Das sei in Teilen bereits gelungen. "Die Initiative hofft, mit ihrer Arbeit den größten Teil der Archive zu sichern. Allerdings lässt sich derzeit nicht sagen, inwiefern die Taliban in diese Archive eindringen werden, um sie wie bereits vor 20 Jahren zu vernichten."
Dass die Taliban mit sich verhandeln ließen, hält Lehmann für eher unwahrscheinlich. "Das wäre von der Einschätzung falsch. Die Einstellung gegenüber der Musik ist dermaßen ablehnend, dass Überlegungen, wie sich ein Konsens erstellen ließe, völlig illusorisch sind. "Es kann hier nur darum gehen, so viel wie möglich zu retten. Und das versuchen wir."
Immerhin habe man von einer ganzen Reihe von Aufnahmen Backups herstellen können, ergänzt Tiago de Oliveira Pinto. Sollte das Archiv zerstört werden, bleiben zumindest die digitalen Kopien erhalten. Ursprünglich habe man in Weimar viele dieser Kopien online gestellt, um dem Publikum einen Eindruck von den afghanischen Musiktraditionen zu geben. "Inzwischen haben wir die alle offline genommen, um die Musikerinnen und Musiker nicht zu gefährden", so Pinto. Denn es bestehe die Gefahr, dass die Taliban bei ihrer Fahndung nach Musikern sich auch das Weimarer online-Angebot zunutze machten. Sie bräuchten dann nur einen Namen in unsere Suchmaske einzugeben, und sie hätten ein Foto der gesuchten Person. "Um das zu vermeiden, haben wir sämtliche Dokumente aus dem Netz genommen."
Hürden bei der Ausreise
Zudem gehe es jetzt darum, weitere Musiker und Musikerinnen aus dem Land zu holen, so Pinto. Sein Team habe zahlreiche Personen auf die Evakuierungslisten des Auswärtigen Amts setzen lassen. "Die ersten sind bereits kontaktiert worden, und einige sind bereits aus dem Land gekommen. Aber der Prozess ist sehr schwierig. Die deutsche Diplomatie muss verhandeln, allerdings will man nicht direkt mit den Taliban sprechen. Aber andererseits halten sie die Macht in den Händen."
Diese Macht konsolidiert sich, und so wird es für bedrohte Personen immer schwieriger, das Land zu verlassen. "Es gab vor einigen Wochen einen Flug, mit denen man viele Menschen hätten evakuieren können", so Pinto. "Doch dann haben die Taliban die komplette Passagierliste mit sämtlichen Daten verlangt. Verständlicherweise wollte dann niemand mehr seinen Namen auf der Liste sehen."