Hilfe für afghanische Wissenschaftler
11. Dezember 2021Geschlossene staatliche Universitäten, seit Monaten ausstehende Löhne für das Lehrpersonal, Geschlechtertrennung in privaten Hochschulen, schlechte Zukunftsaussichten für Akademiker, insbesondere für Wissenschaftlerinnen und Studentinnen: Rund dreieinhalb Monate nach der Machtübernahme der Taliban sieht die universitäre Landschaft Afghanistans düster aus.
Angesichts dieser Situation versuchten Wissenschaftler, die Beziehungen zum Westen haben, das Land nach Möglichkeit zu verlassen, sagt der Konfliktforscher Conrad Schetter, Mitglied im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Afghanistan (AGA), im DW-Interview. Die AGA ist eine lose Interessengemeinschaft von Wissenschaftlern und anderen Experten, die sich seit 1966 dem Informationsaustausch über Afghanistan widmet. Er kenne eine Vielzahl von im Hochschulbereich tätigen Afghanen, die in Deutschland oder den USA Asyl beantragt und das Land bereits verlassen hätten, sagt Schetter. "Wir beobachten bereits jetzt einen Braindrain aus Afghanistan, vor allen Dingen in Richtung Westen."
Hilferufe an deutsche Wissenschaftsorganisationen
Hilfeappelle richten afghanische Wissenschaftler an die beiden wichtigsten deutschen Organisationen, die auf internationaler Ebene den wissenschaftlichen Austausch durch Stipendien pflegen: Das sind der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), der sich um Studierende und Doktoranden kümmert, sowie die Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH), zuständig für die Professoren. Angesichts der wissenschaftsfeindlichen Lage ruht die normale Kooperation mit Afghanistan, umso mehr ist außergewöhnliche Unterstützung gefragt.
Den DAAD hätten Hunderte Anfragen um Hilfe erreicht, sagt Christian Hülshörster, Leiter des Bereichs Stipendienprogramme Süd, im DW-Gespräch. "Im vergangenen Jahr haben wir insgesamt 50 Stipendien (im Rahmen des sogenannten Hilde-Domin-Programms) vergeben", sagt Hülshörster. Davon seien einige bereits an Afghaninnen und Afghanen gegangen. "Und wir haben uns kürzlich mit dem Auswärtigen Amt über die Freigabe weiterer Mittel verständigt. Damit können wir voraussichtlich noch einmal 25 bis 30 weitere Stipendien speziell für diese Personengruppe vergeben."
Mit dem vor rund einem Jahr aufgelegten Hilde-Domin-Programm des DAAD sollen weltweit gefährdete Studierende und Doktoranden, denen in ihrem Herkunftsland offiziell oder de facto das Recht auf Bildung verweigert wird, dabei unterstützt werden, ein Studium in Deutschland aufzunehmen oder fortzusetzen.
Den gleichen Zweck, auf der Ebene der Professoren, verfolgt die Philipp Schwartz-Initiative, die 2015 von der AvH zusammen mit dem Auswärtigen Amt ins Leben gerufen wurde. Die Not afghanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sei groß, sagt Frank Albrecht, Programmverantwortlicher der Philipp Schwartz-Initiative: "Täglich erreichen uns Hilfegesuche, auch von Menschen ohne jede Verbindung zur Wissenschaft, die von Verzweiflung getrieben jede denkbare Anlaufstelle kontaktieren, um Gehör zu finden. Wirklich helfen können wir nur im Wissenschaftsbereich, aber wo auch immer ein solcher Bezug besteht, versuchen wir zu beraten und Verbindungen herzustellen."
"Brückenstipendien" in Deutschland
"Aber angesichts des Ausmaßes der Krise müssen wir jetzt weiterdenken und neue Wege beschreiten", führt Albrecht weiter aus. Deshalb baue die AvH mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes ein Sonderprogramm "Brückenförderungen für Afghanistan" auf, das über einjährige Brückenstipendien etwa 20 weiteren Wissenschaftlern einen Zugang zu sicheren Häfen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland ermöglichen soll. Albrecht hofft, dass "in wenigen Monaten" die ersten Förderungen starten können.
Auch der DAAD nutzt das Instrument der "Brückenstipendien", bislang 60 an der Zahl. "Sie richten sich vor allem an Menschen aus Afghanistan, die sich bereits in Deutschland befinden und durch die politischen Entwicklungen im Heimatland von der finanziellen Förderung etwa durch ihre Eltern abgeschnitten sind. Ebenso richtet es sich an Menschen, die hier studiert haben, aber aufgrund der aktuellen Situation nicht in ihr Heimatland zurückkehren können", erläutert Christian Hülshörster.
Neue Wege bei Bildungskooperation gesucht
Langfristig wird sich in Afghanistan wenig zum Besseren wenden, erwartet Conrad Schetter. Bei den Taliban für ein westliches Wissenschaftsverständnis zu werben, hält er für wenig aussichtsreich. Ähnlich sehe man es auch im DAAD, sagt Christian Hülshörster. "Darum werden wir uns im kommenden Jahr mit der Frage auseinandersetzen, was man denn für die Menschen tun kann, die nicht nach Deutschland kommen können. Wir denken etwa über virtuelle Lernangebote nach. Damit wollen wir dazu beitragen, dass in Afghanistan nicht eine komplett verlorene Generation entsteht." Ebenso seien auch Stipendien in Drittländern im Gespräch. "Wir werden prüfen, ob wir mit Blick auf die großen afghanischen Communities, die ja bereits in den Nachbarländern existieren, sogenannte Drittland-Stipendien anbieten."
Auch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung denke über nachhaltige Hilfe nach, sagt Frank Albrecht. "Es wäre verantwortungslos, die Zeit nach der Förderung außer Acht zu lassen und Menschen nach einer Phase der Ersthilfe sich selbst zu überlassen. Deshalb muss bei jeder Förderung der Aufbau tragfähiger Zukunftskonzepte im Mittelpunkt stehen."
In Afghanistan selbst lasse sich absehbar wohl nur mit privaten Organisationen oder einzelnen Professoren zusammenarbeiten, nimmt Conrad Schetter an. Es gebe es aber weitere Optionen. "Dazu gehört etwa das, was die Vereinten Nationen jetzt schon machen, nämlich, dass man Lehrergehälter über die internationale Gemeinschaft finanziert. Dieser Ansatz ließe sich auch auf die Gehälter von Professoren und anderen Universitätsangestellten erweitern. Hier hat man mit den UN ein schlagkräftiges System, das in Afghanistan Dinge leichter umsetzen könnte."