Deutsche Eliten und der Brexit
19. Juli 2016Die Eliten in Politik und Wirtschaft glauben, dass es falsch ist, das Volk über weitreichende politische Entscheidungen wie einen EU-Austritt direkt entscheiden zu lassen. Wahrscheinlich glauben sie, dass sich das britische Volk falsch entschieden hat, als es mehrheitlich für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hat. In einer Umfrage unter Führungskräften in Deutschland fanden 74 Prozent, dass solche Entscheidungen besser von Parlamenten getroffen werden sollten.
"Die Führungsspitzen waren ziemlich schockiert über die Briten", erklärt Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach, das die Erhebung durchgeführt hat. Jetzt, nachdem die Würfel gefallen sind, wünschen sich die meisten, klare Kante zu zeigen. Die Gemeinschaft solle den Briten konsequent die Vorteile der Mitgliedschaft entziehen, meinen 56 Prozent kühl.
"Die Wirtschaft sagt jetzt zu fast 90 Prozent, dass die EU umfassend reformiert werden muss", weiß Köcher durch die Befragung und verweist darauf, dass der Reformbedarf bei Politikern mit nur 63 Prozent deutlich geringer eingeschätzt wird. Angesichts der neuen Situation für die Mitgliedsstaaten haben Top-Politiker und -Manager aber inzwischen ihre Fassung wieder gefunden. Der Austritt Großbritanniens wird sich nur gering auswirken, vermuten 77 Prozent von ihnen, nur 15 Prozent erwarten starke Auswirkungen.
Die Wirtschaftsleute erwarten fast zur Hälfte kaum Folgen für das eigene Geschäft, am sichersten fühlen sich die Mittelständler (55 Prozent). Allerdings haben nach dem Beschluss zum Ausstieg die Entscheider ihre Erwartungen an die Konjunkturentwicklung nach unten korrigiert. Vor dem Brexit-Votum schätzten 40 Prozent mit einer Aufwärtsbewegung, danach nur noch 32 Prozent. Eine knappe Mehrheit der Befragten rechnet jedoch nach wie vor mit einer stabilen Lage.
Flüchtlingspolitik der Bundesregierung wird mehr geschätzt
Erneut ein wichtiges Thema in der periodischen Umfrage war die Haltung der Spitzenkräfte zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Insgesamt wird diese positiver wahrgenommen als noch vor einem Jahr. "Es gibt jetzt etwa zwei Drittel Zustimmung zum derzeitigen Kurs, das hat natürlich damit zu tun, dass das Thema nicht weiter eskaliert ist, sondern die Flüchtlingszahlen steil zurück gegangen sind", interpretiert Meinungsforscherin Köcher das Ergebnis. Jedoch glauben nur 31 Prozent daran, dass der Rückgang von Dauer ist.
Darüber hinaus glauben relativ wenige der Befragten daran, dass es Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem Kabinett gelingen könnte, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen. Insgesamt 29 Prozent halten es für möglich, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern mittelfristig zu verbessern. Dabei fällt auf, dass Politiker wiederum deutlich optimistischer sind (40 Prozent) als die Spitzenleute aus der Wirtschaft (27 Prozent).
Für die Arbeit der Großen Koalition erteilen die Entscheider aus der Wirtschaft mehrheitlich schlechte Noten: 54 Prozent sind enttäuscht. Die Politiker finden Merkels Mannschaft da viel angenehmer und äußern sich zu 58 Prozent zufrieden. Die Kanzlerin selbst wird derzeit als etwas weniger durchsetzungsfähig eingestuft (77 Prozent im statt der 83 Prozent im Vorjahr). Sie gilt nur noch für etwas über die Hälfte der Befragten als kluge Strategin (2015: 67 Prozent). Aufwärts ging es für Merkel aber bei der Einschätzung ihrer Kompetenz und Sachkenntnis. "Solche Werte hatte kein Kanzler zuvor in Bezug auf Kompetenz", betont Allensbach-Chefin Köcher. Den meisten (61 Prozent) erscheint die Kanzlerin glaubwürdig - dieser Wert lag vor zwei Jahren bei 50 Prozent, vor Jahresfrist allerdings auch schon bei 70 Prozent.
Blick in die Köpfe der Entscheider
Das Elite-Panel wird seit 1987 regelmäßig erstellt. Diesmal wurden im Juni und Juli 350 Manager aus großen Unternehmen, dann 100 führende Politiker befragt. Nach Allensbach-Angaben sind auch 23 Ministerpräsidenten und Minister aus Bund und Ländern dabei. Auftraggeber des Panels sind die Frankfurter Allgemeine Zeitung und das Wirtschaftsblatt Capital, für deren Leserschaft die Umfrage eine Art der Selbstvergewisserung als Elite darstellen könnte. Für nichtelitäre Rezipienten erhofft Allensbach-Chefin Köcher, dass sie "urteilssicherer" werden, wenn sie wissen, welche Haltung die Macher haben. Capital-Chefredakteur Horst von Buttlar vermutet darüber hinaus einen Einblick in das wahre Denken der Untersuchten. "Die Meinung der Befragten kriegen wir doch sonst immer nur durch einen Filter", bekennt Fachjournalist von Buttlar.