Der wuchernde Terror
14. Juni 2016"Zertrümmert ihre Schädel mit einem Stein; schlachtet sie mit einem Messer ab; überfahrt sie mit euren Wagen; stürzt sie aus großer Höhe; erwürgt sie oder vergiftet sie". Das sind Handlungsempfehlungen, die IS-Sprecher Abu Muhammad al-Adnani im September in einer Audiobotschaft an die Sympathisanten der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) ausgegeben hatte. In erster Linie, ergänzte er, sollten die "Soldaten" des IS "die niederträchtigen und schmierigen Franzosen" attackieren. Aber auch alle "Ungläubige" anderer Staaten seien legitime Ziele.
Die Botschaft, die al-Adnani ausgibt, ist sowohl in Orlando als auch in Paris auf fruchtbaren Boden gefallen. Beide Täter bekannten sich als Anhänger des IS, beide waren den Sicherheitsbehörden ihrer jeweiligen Länder bekannt. Und beide stellen sie die Justiz vor die Frage, wie mit Terrorverdächtigen umzugehen sei. Wie verfährt man mit Personen, die bereits gerichtlich aktenkundig sind oder sich als Sympathisanten des IS bekannt haben?
Keine formale Struktur
Noch mehr beschäftigt die Sicherheitsbehörden eine andere Frage: Wie identifiziert man Menschen, die bereit sind, im Namen des IS Terrorakte zu begehen? "Die Definition eines Netzwerkes ist es ja gerade, dass es keine Hierarchie, keine formale Struktur ist", sagt der Terrorismusforscher Peter Neumann gegenüber der DW. "Das sind Leute, die sich gegenseitig kennen, etwa dadurch, dass sie zusammen im Ausland waren; dadurch, dass sie sich in der dschihadistischen Szene getroffen haben und deren Kennverhältnisse dann von Fall zu Fall aktiviert werden. Es ist keine formale Struktur."
In den westlichen Ländern, allen voran in Frankreich, macht gerade dieser Mangel an formalen Strukturen die Stärke des IS aus. Mögliche Sympathisanten und Kämpfer sind schwerer zu identifizieren als in einer hierarchisch geordneten Organisation. Diese Form ist gewollt. "Nizam, la tanzim", heißt die berühmt gewordene Formel des Theoretikers dieses wuchernden Terrorismus, des syrischen Dschihadisten Abu Musab al-Suri: "Ein System, keine Organisation" - das heißt: Dschihadisten bilden ein formloses Netzwerk, ein sich auf persönlichen Beziehungen gründendes, stets sich änderndes und nur locker strukturiertes System. Man kann sich ihm anschließen und es auch wieder verlassen. Vor allem kann man unabhängig und auf eigene Faust agieren.
Die Strategie des Musab al-Suri
Da'wat al-muqawamah al-islamiyyah al-'alamiyyah ("Aufruf zum globalen islamischen Widerstand") nannte Al-Suri das umfangreiche Konvolut, in dem er seine Theorie des Dschihad vorstellte. Sie enthält einen ideologischen und einen strategischen Teil. Die Ideologie zielt auf die Verdammnis der "amerikanisch-jüdischen Kreuzfahrer", die Al-Suri zufolge die islamische Welt gezielt zerstörten. Dies geschehe durch die "Verbreitung einer Kultur des Verfalls, der Verderbtheit, des Ehebruchs und der Unmoral, des Enthüllens, der Nacktheit, der Vermischung der Geschlechter und anderer Arten sozialer Korruption."
Dagegen gelte es, sich zu wehren, schreibt Al-Suri, und zwar durch jenen entgrenzten Krieg, den seine Schrift im Titel führt. Ziele gebe es viele, und zwar unterschiedlichster Art: Politiker und Militärs; die ökonomische Infrastruktur wie etwa Flughäfen und Häfen, Eisenbahnstationen, Brücken, Autobahnkreuze, dazu U-Bahnen und touristische Ziele. Auch Militärbasen und Computerzentren könne man angreifen; aber auch "weiche" Ziele wie Medienunternehmen und deren Repräsentanten. All dies, versichert Al-Suri, diene nur der Gegenwehr.
"Geschichte der Menschheit"
Diese Gegenwehr gelte es in aller Härte durchzuführen: "Die Art von Angriffen, die Staaten und Regierungen ins Wanken bringen kann, ist der Massenmord an der Zivilbevölkerung. Dies geschieht, indem man Menschenansammlungen attackiert, mit denen man ein Maximum an menschlichen Verlusten herbeiführt." Das sei einfach, versichert Suri, denn es gebe viele solcher Ziele. "Zum Beispiel volle Sportarenen, einmal im Jahr stattfindende soziale Ereignisse, große internationale Ausstellungen, volle Marktplätze, Wolkenkratzer, Gebäude mit vielen Menschen."
Der vermutlich 1958 geborene Al-Suri lebte jahrelang in Europa. Zur Last gelegt wird ihm eine führende Rolle bei der Planung der Anschläge auf die Vorortzüge in Madrid im März 2003, durch die über 190 Menschen starben und über 2000 verletzt wurden. Al-Suris Spur verlor sich vor einigen Jahren in den Gefängnissen des Assad-Regimes.
Heute werden seine Anliegen von einer jüngeren Generation verbreitet, angepasst an das Hauptmedium der Gegenwart, das Internet. Eines der populärsten Machwerke veröffentlichte der aus dem Senegal stammende Franzose Omar Diaby alias Omar Omsen. "19 HH" heißt sein mehrgliedriger Clip, der schon im Titel einen Hang zu totalitären Weltbildern erkennen lässt: "HH" steht für "Histoire de l´Humanité", "Geschichte der Menschheit". Die Zahl 19 bezieht sich auf die 19 Attentäter der Anschläge in New York und Washington im September 2001.
In den Clips spricht Omsen von einer angeblichen Weltverschwörung gegen den Islam: "Sie können die Dinge nach ihren Vorstellungen modifizieren und die Massen in Richtungen drängen, die ihnen passt. … Im Namen der so genannten Sicherheit hat die Propaganda gegen den Islam begonnen!" Omsen galt als einer der bedeutendsten Anwerber für den Dschihad in Syrien. Er selbst starb im August 2015 ebendort.
Al-Adnani, Al-Suri und Omsen: drei der wichtigsten Rekruteure für den weltweiten Dschihad – einen Krieg, der nun mehr und mehr auf "weiche" Ziele, den westlichen Alltag zielt. In ihm können auch die sozial Deklassierten, die der Gesellschaft Entfremdeten, eine Rolle spielen - wie jetzt die Attentäter von Orlando und Paris. Kleinkriminelle und Neurotiker führen den Dschiahd,. Eben das macht es so schwierig, ihn zu bekämpfen.