Der vergessene Putsch
22. August 2006"Wie? Was meinst Du? Was soll heute für ein Jahrestag sein?" Unser Producer blättert hektisch in seinem Kalender. Das müsste er doch wissen! Hat er etwa einen wichtigen Termin verpasst? "Na, es gab doch einen Putsch, damals! Gorbatschow, festgesetzt auf der Krim. Panzer und Barrikaden im Moskauer Stadtzentrum. Tausende vor dem Weißen Haus, im Protest vereint gegen das selbsternannte Notstandskomitee zur Rettung der Sowjetunion. Und Boris Jelzin, ihr Held, der mutig auf einen der Panzer geklettert war und zum Widerstand gegen die Altkommunisten aufrief!" "Ach so, ja das. Das ist heute schon nicht mehr so wichtig", strahlt unser Producer erleichtert.
Die Aufbruchsstimmung ist vorbei
"Ach so, ja das" markierte vor 15 Jahren eine Zeitenwende. Zum ersten mal hatten sich die Bürger in Massen gegen die Unterdrückung der sowjetischen Nomenklatura aufgelehnt und ihr so den Todesstoß
versetzt. Ein autoritäres Imperium brach zusammen, die Demokratie hatte scheinbar einen glänzenden, unumkehrbaren Sieg errungen. Euphorie damals in Ost wie West. Vom Ende der Geschichte war gar die Rede und viele Russen hofften auf eine bessere Zukunft. Doch von all der Aufbruchstimmung ist so gut wie nichts geblieben.
Am letzten Wochenende und zu Wochenbeginn versammelten sich gerade einmal ein paar hundert Menschen in Moskau, um an die Ereignisse im August 1991 zu erinnern. Und vor dem Lenin-Museum schwenkten, wie an jedem ersten Mai, einige Dutzend Anhänger der Kommunisten, überwiegend alte Mütterchen, betagte Veteranen und Helden der Arbeit, ihre alten roten Fahnen und Schilder mit verstaubten Parolen. "Lasst uns die UdSSR wieder aufbauen!" oder "1991-2006: Von der Supermacht zur nationalen Schande."
Sehnsucht nach Ruhe, Ordnung und vergangener Größe
Dem Staatsfernsehen war der Volksaufstand gegen die Augustputschisten allenfalls eine kurze Meldung wert. Nur vereinzelt hatten sich rückblickende Dokumentationen ins Programm verirrt. Den meisten Russen geht es heute um Stabilität und um ein bisschen Wohlstand, der verhaltend mit einer langsam entstehenden Mittelschicht wächst. Die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung ist groß, nach all den Jahren der Wirren und Entbehrungen, der Inflationen, Betrugsskandale und Bankenkrisen während Jelzins "wilder" Privatisierung und Demokratisierung.
Nur noch zwölf Prozent der Russen würden Boris Jelzin heute noch einmal gegen die Hardliner unterstützen. Gerade dreizehn Prozent gilt das Scheitern der Putschisten noch als Sieg für Demokratie und Volkssouveränität. Das Staatsvolk ist wieder auf Kurs. Schon im letzten Jahr hatte Präsident Wladimir Putin den Untergang der Sowjetunion als größte Tragödie des 20. Jahrhunderts gegeißelt. Kein Anlass also für Staatsfeierlichkeiten zum 15. Jahrestag.
Jelzins Vermächtnis: die Staatsflagge
Trotzdem weht seit dem Wochenende überall in der Stadt die Staatsflagge. Einige Demonstranten schmückten sich gar mit ihr. "Die gefällt uns halt gut, darum zeigen wir sie gern überall," scherzt ein Verkehrspolizist, der am Straßenrand des mehrspurigen Gartenrings Verkehrssünder mit der Radarpistole zur Strecke bringt. "Vielleicht hat das auch was mit dem Tag der Stadt zu tun," mutmaßt sein Kollege. "Nein der ist doch erst irgendwann im September." Ratloses Achselzucken bei den Staatsbeamten.
Die russische Flagge - weiß, blau, rot - geht auf Peter den Großen zurück, den begeisterten Hollandreisenden, den Gründer der russischen Flotte, den energischen Modernisierer, der Russland auf Augenhöhe mit dem Westen brachte. Soviel gewichtige Geschichte passt dann doch wieder zu Putins Russland. Und das wird gefeiert. Da stört es auch nicht, dass ausgerechnet Boris Jelzin, der inzwischen gefallene Held, die Trikolore 1991 als Symbol für den Sieg des Volkes über die roten Diktatoren wieder zur Staatsflagge gemacht hatte. Am 22. August ist in Russland Flaggentag.