Der vergessene Krieg
9. Februar 2002Russland gehört nach den Terroranschlägen in den USA zur weltweiten Anti-Terror-Koalition. Die "Gegenleistung" der westlichen Staaten besteht darin, dass man den Russland-Einsatz im Kaukasus überdenken wolle. Moskau solle wegen des Tschetschenien-Konflikts nicht isoliert werden. Tschetschenien kämpft seit Jahren für Unabhängigkeit, doch die Grenzen zwischen dem nationalen Befreiungskampf und fundamentalistischem Terror verwischten immer mehr. Russland will auf gar keinen Fall ein souveränes Tschetschenien, doch den Krieg kann es auch nicht gewinnen. So gehen Plünderung, Mord und Vergewaltigung weiter, ohne dass es in der Weltöffentlichkeit große Schlagzeilen macht. Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" beschreibt Tschetschenien als "Gefängnis unter freiem Himmel."
Zweierlei Maß
Moskau hingegen fühlt sich vom Westen ungerecht behandelt. Im Kampf gegen den Terrorismus dürfe nicht mit zweierlei Maß gemessen werden, so Russlands Verteidigungsminister Sergej Iwanow am vergangenen Samstag (2. Februar 2002) in München. Während die USA mit internationaler Billigung in Afghanistan aktiv seien, stünde Russland wegen seines Anti-Terror-Einsatzes in Tschetschenien nach wie vor am Pranger der Weltgemeinschaft. Nach dem 11. September wuchs das Verständnis in vielen europäischen Städten für die russische Tschetschenien-Politik, doch vor allem Menschenrechtsgruppen fordern nach wie vor den Abzug der russischen Armee aus der Kaukasus-Republik.
Kein Ende des Krieges in Sicht
Ein Ende des Tschetschenienkrieges zeichnet sich nicht ab und damit ist auch der Frieden nicht in Sicht. Der russische Tschetschenienminister Wladimir Jelagin erklärt, warum Moskau den Krieg führen muss. Aus seiner Sicht herrschten in der als unabhängig ausgerufenen Republik damals mafiose Strukturen. Die Machthaber beschäftigten sich mit Geiselnahmen, Waffen- und Drogenhandel. "Die Schulen und Krankenhäuser waren geschlossen, es wurden keine Gehälter und Renten bezahlt, kurzum, die Macht befand sich in den Händen von Banditen. Deshalb musste man die Menschen in Tschetschenien von dieser fürchterlichen Regierung befreien."
Tschetschenen als Sündenböcke der Nation
Tschetschenien erscheint in den Augen vieler Russen als ein Fass ohne Boden. Für Soldaten, Waffen und den Wiederaufbau würde der Staat Unsummen ausgeben, Geld, das an allen Enden fehlt. Die Rentnerin Valentina Kusnezowa schlägt deshalb in einer Radiosendung vor, man solle die Tschetschenen doch sich selbst überlassen, besiegen könne man sie ohnehin nicht: "Einen Feind im eigenen Haus brauchen wir doch nun wirklich nicht!"
Die kritischen Stimmen mehren sich
Kritiker beklagen, dass die Tschetschenen für nahezu alles verantwortlich gemacht werden können. Tschetschene zu sein, auch nur in Grosny geboren zu sein, reicht, um unter Generalverdacht zu stehen. Selbst Prominente, die lange geschwiegen haben, melden sich jetzt zu Wort. Schachweltmeister Garry Kasparow wehrt sich zum Beispiel gegen die gebetsmühlenartig vorgetragene Behauptung, dass es Tschetschenen waren, die 1999 die Wohnhäuser in die Luft sprengten. Bis heute habe der Geheimdienstchef keine Beweise vorlegen können.
Kreml bleibt bei Verweigerungshaltung
Den prominenten Schachspieler wundert, dass der Geheimdienstchef noch nicht entlassen wurde und niemand im Parlament bislang einen Untersuchungsausschuss gefordert hat. Ein politisches Ende des Tschetschenienkonfliktes ist auch nach mehr als zwei Jahren Krieg nicht in Sicht. Ende vorigen Jahres gab es vorsichtige Anzeichen für politische Gespräche, doch letztlich blieb der Kreml bei seiner Verweigerungshaltung. Statt dessen nehmen die russischen Soldaten weiter Tag für Tag die sogenannten Säuberungen vor. Sie riegeln Städte und Dörfer ab, dringen in Höfe und Häuser ein. Auf der Suche nach den Rebellen und ihren Helfershelfern sind grundsätzlich alle tschetschenischen Männer verdächtig. Die Soldaten dürfen sie festnehmen, schlagen, foltern und töten, meist ohne sich dafür verantworten zu müssen. Moskau befindet sich im Anti-Terror-Krieg und hält damit jede Kritik am Vorgehen in Tschetschenien für unzulässig.
Unterdessen beklagen und dokumentieren Menschenrechtsorganisationen zwar die Verbrechen - am Verhalten der russischen Soldaten ändert das jedoch nichts.