Der Unersetzliche
6. Juli 2014Schnell spricht der Reporter, sehr schnell. Es liegt Dramatik in seiner Stimme. Doch eigentlich passiert gerade: nichts. Hinter ihm eine Zufahrt zu einer gut bewachten Wohnanlage. Keine Menschenseele ist zu sehen. Dennoch sprudeln die Worte weiter aus dem Mund des Reportes von "Globo News", der wortreich erzählt, dass hier gerade nichts los sei. Doch auch das ist eine Nachricht dieser Tage in Brasilien, denn der Reporter berichtet live aus dem Wohnort von Neymar. Guaruja, eine Küstenstadt im Bundesstaat Sao Paulo mit 300.000-Einwohnern, wird aktuell belagert von Journalisten.
Natürlich, denn es geht ja um Brasiliens Fußball-Idol Neymar, das so tragisch aus dem WM-Turnier ausschied, dass es einer ganzen Nation gerade das Herz zerreißt. Auch am zweiten Tag nach dem üblen Foul des Kolumbianers Juan Zuniga an Neymar im WM-Viertelfinale, das Brasilien mit 2:1 gewann, ist Neymars Gesundheitszustand das alles dominierende Thema in den brasilianischen Medien. "Er ist sehr traurig, aber es geht ihm gut", sagt der Reporter von "Globo News" und gibt an, diese Information von Neymars Freunden zu haben.
Neymar ist raus aus der WM und doch ihr Mittelpunkt
Die TV-Sender des Landes berichteten live von dessen Einlieferung ins Krankenhaus und natürlich auch Abtransport per Helikopter in die Heimat. Dort werden nun Neymars ehemalige Mitspieler in seinem Heimatverein FC Santos interviewt, ein Arzt erklärt in den Nachrichten bei "Band News" anhand einer Modell-Wirbelsäule minutenlang Neymars Verletzung und auch seine Nationalmannschaftskollegen im Teamquartier in Teresopolis werden bei Pressekonferenzen praktisch nur zu ihm befragt. Beim Viertelfinale zwischen den Niederlanden und Costa Rica wurde nicht etwa ein Spieler auf dem Platz am lautesten von den Fans besungen, sondern er: Neymar ist raus aus der Weltmeisterschaft und doch momentan ihr Mittelpunkt.
Die Stimmung in Brasilien schwankt dieser Tage zwischen Verzweiflung, Nachdenklichkeit, Trotz und ungebrochener Hoffnung. Kurz vor dem schweren Halbfinalspiel gegen Deutschland hat jeder seine ganz eigene Sicht auf Brasiliens Chancen im Halbfinale gegen Deutschland. "Das wird ganz schwer ohne Neymar", sagt Gastwirtin Anna Lucia, die nur ein paar Hundert Meter entfernt vom deutschen Teamquartier in Santo Andre wohnt. "Es ist schön, dass die deutsche Mannschaft hier ist. Das ist gut für die Region. Aber jetzt hoffen wir natürlich auf einen Sieg für Brasilien", sagt sie mit einem Lachen. Zuversichtlich ist auch Taxifahrer Luis: "Wir werden Deutschland schlagen, ganz sicher, auch ohne Neymar", sagt er und wirkt dabei, als müsste er sich Mut einreden.
Hat sich Scolari verpokert?
Während sich das ganze Land noch immer um Neymars Gesundheit sorgt, ist in Teresopolis längst die Diskussion entbrannt: Wer kann Neymar ersetzen? Und ist das überhaupt möglich? Eigentlich kaum. Das System der Selecao war komplett auf Neymar ausgerichtet, von seiner Schnelligkeit und Torgefahr abhängig. Experten haben genau das schon vor dem Turnier kritisiert, doch Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari setzte alles auf die Karte Neymar. Und das sah man auf dem Spielfeld: Alle zehn bisherigen WM-Tore Brasiliens fielen in der Mitte, dort wo Neymar schaltete und waltete über das brasilianische Spiel. An der Hälfte der Tore war er direkt beteiligt.
Unter den 22 weiteren Spielern, die Scolari für die Mission Heimsieg ausgewählt hat, findet sich keiner, der in Neymars Rolle schlüpfen kann. Dennoch muss Felipao, wie sie ihn hier liebevoll nennen, Ersatz aufbieten. Ist es Mittelstürmer Fred? Wohl kaum. Denn der etwas ungelenke Angreifer von Fluminense hat eine andere Aufgabe bei Scolari: Er soll lange Bälle abfangen und abschirmen, bis jemand da ist, der geschickter damit umgehen kann - vor allem eben Neymar. Der Brecher in der Spitze wusste bisher nicht zu überzeugen und ist ohnehin bei den Fans wegen seiner ziemlich unbrasilianischen Spielweise wenig beliebt.
Ist es für eine Systemumstellung nun zu spät?
Da Scolari nach einem schnellen Spieler als Neymar-Ersatz suchen dürfte, könnte die Wahl auf ihn fallen: Willian vom FC Chelsea. Er hat viel Zug nach vorne, ist laufstark – ist aber leider nicht torgefährlich. Weder im Verein, noch in der Nationalmannschaft fiel er in Sachen Effizienz besonders auf. Das gilt auch für Supertechniker Bernard. Das 1,66 Meter kleine Talent von Schachtjor Donezk kann am Ball eigentlich alles, ist aber vor dem Tor nicht durchsetzungsstark genug. Eher schon Hernanes von Inter Mailand, der als kompletter Spieler gilt. Er ist torgefährlich und gut im Spielaufbau, hat aber bisher bei dieser WM gerade einmal 31 Minuten gespielt.
Scolari steht also vor einer kniffligen Aufgabe. Da er keinen wirklich adäquaten Ersatz im Kader hat, muss er die Verantwortung auf mehrere Schultern in der Offensive verteilen, sein Konzept ändern, vielleicht mehr über die Außenbahnen spielen. Ob eine solche Systemumstellung zu diesem Zeitpunkt im Turnier noch möglich ist, wird sich zeigen.
Müller und Co. die Beine zusammenbinden
Vielleicht braucht der brasilianische Nationaltrainer in der komplexen Frage, wie Neymar zu ersetzen ist, einfach nur die Unterstützung von Helio Sillman. Der ist Voodoo-Priester aus Rio de Janeiro und großer Fan der Selecao. Um Brasiliens Traum vom WM-Finale im Maracana aufrecht zu erhalten, will er die Spieler von Halbfinal-Gegner Deutschland mit einem Fluch belegen. "Ich nehme die Führungsspieler und binde ihre Beine zusammen, damit sie auf dem Rasen nicht laufen können", sagte Helio Sillman dem Sport-Informations-Dienst. Natürlich meinte Sillmann damit nicht die echten Spieler, sondern die Voodoo-Puppen, die er von den wichtigsten Spielern von Brasiliens Gegner anfertigt.
Vielleicht hilft es ja, jede Unterstützung für die Selecao ist willkommen in diesen schweren Tagen. Neymar rechtzeitig zum Halbfinalspiel gegen Deutschland wieder zu heilen, wird aber selbst Helio Sillman nicht können.