Der Todesstreifen
19. Januar 2012Es herrscht wieder Hochbetrieb auf der Sandkrugbrücke. Tausende Autos überqueren an dieser Stelle täglich den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, einen künstlichen Nebenarm der Spree. Im Hintergrund ist der spektakuläre gläserne Hauptbahnhof der wiedervereinigten Hauptstadt zu sehen. Hier, wo heute das deutsche Wirtschaftsministerium seinen Sitz hat, befand sich früher der Grenzübergang Invalidenstraße. An diesem Ort starb am 24. August 1961 der 24-jährige Schneider Günter Litfin aus dem Ostberliner Bezirk Weißensee. Ein unscheinbarer Gedenkstein erinnert an das Schicksal des jungen Mannes, des ersten durch gezielte Schüsse ums Leben gekommenen Mauer-Opfers.
DDR-Regime bezeichnete Flüchtlinge als "Grenzverletzer"
Elf Tage vorher hatte die DDR damit begonnen, die Grenzübergänge nach West-Berlin abzuriegeln, um den seit Jahren andauernden Flüchtlingsstrom endgültig zu stoppen. Wer jetzt noch die Seiten wechseln wollte, riskierte sein Leben. Dass die kommunistischen Machthaber bis zum Schießbefehl entschlossen waren, daran ließen sie keinen Zweifel. Teil der Propaganda in den staatlich gelenkten Medien waren Berichte, in denen bewaffnete Soldaten ihren Willen bekundeten, sogenannte Grenzverletzer und Provokateure an ihrem nach DDR-Recht illegalen Vorgehen, die Grenze in den Westen zu überqueren, zu hindern.
Man habe seine Lehren aus dem 17. Juni 1953 gezogen, gaben die DDR-Oberen offen zu. Damals, acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und acht Jahre vor dem Berliner Mauerbau, war es der Ost-Berliner Regierung nur mit Hilfe sowjetischer Truppen gelungen, den ersten Volksaufstand niederzuschlagen. Nach DDR-Lesart waren die Proteste vom Westen gesteuert. Die Angst vor einer zweiten Revolte wurde das Regime nie wieder los. Eine späte Folge dieser Angst war der Mauerbau im Sommer 1961.
Aus der Wohnung in die Freiheit gesprungen
Bilder von fassungslosen und verzweifelten Menschen beiderseits der anfangs provisorischen Sperr-Anlagen gingen um die Welt. Mitunter standen Häuser buchstäblich auf der Grenze. Manche wagten im wahrsten Sinne des Wortes den Sprung in die Freiheit. Ihre Wohnungen befanden sich im Osten, der Bürgersteig aber gehörte zum Westen. Dramatisch war die Situation vor allem an der Bernauer Straße, wo die DDR-Machthaber im Laufe der Zeit zahlreiche Häuser und sogar eine Kirche sprengten.
Heute stehen hier einige der wenigen Mauerreste und die zentrale Gedenkstätte, in der auch zahlreiche Fluchtversuche - erfolgreiche und missglückte - dokumentiert sind. So gelang es in den ersten Monaten nach dem Mauerbau mehreren Flüchtlingen, durch eigens dafür gebuddelte Tunnel in den Westen zu entkommen. Oft kamen die Fluchthelfer aus dem studentischen Milieu, um im Osten wohnende Kommilitonen herüberzuholen, die vor dem Mauerbau an der Freien Universität im Westen studiert haben.
Willy Brandts moralische Appelle verhallten
Die Politiker im freien Teil Berlins waren von der Entwicklung offenbar völlig überrascht worden. Anscheinend hatte man den Worten des DDR-Staats- und Regierungschefs Walter Ulbricht Glauben geschenkt. Der hatte noch am 15. Juni 1961 öffentlich verkündet, "niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten". Als sich Ulbrichts Worte als dreiste Lüge herausstellten, versuchte der Regierende Bürgermeister West-Berlins und spätere Friedensnobelpreisträger Willy Brandt mit moralischen Appellen auf die Soldaten jenseits der Sperranlagen einzuwirken.
"Zeigt menschliches Verhalten, wo immer es möglich ist! Vor allem aber schießt nicht auf eure eigenen Landsleute!" Lautsprecher-Ansagen wie diese waren bis weit in den Osten hinein zu hören. "Studio am Stacheldraht" nannte der Senat seine rhetorische Offensive, von der sich die Machthaber dahinter unbeeindruckt zeigten.
Am Reichstag erinnern weiße Kreuze an die Opfer
Die DDR hatte mit dem Mauerbau ihr wichtigstes Ziel erreicht: die Massenflucht und die damit verbundene Schwächung von Staat und kommunistischer Planwirtschaft einzudämmen. Das Schließen des letzten Schlupfloches in den Westen war aber zugleich das unausgesprochene und weithin sichtbare Eingeständnis der DDR-Führung, die Menschen in ihrem Machtbereich nur gegen deren Willen zu halten und notfalls gewaltsam am Weggehen zu hindern.
Als der 1989 regierende DDR-Staatschef Erich Honecker der Berliner Mauer bescheinigte, unter Umständen "in 50 oder auch in 100 Jahren" noch zu existieren, waren ihr mehr als 130 Menschen zum Opfer gefallen. Im Februar desselben Jahres, neun Monate vor dem Mauerfall, wurde der 20-jährige Chris Gueffroy erschossen. Er ist der nach heutigem Kenntnisstand letzte Mauer-Tote. Sein Name steht ebenso wie der des ersten getöteten Flüchtlings Günter Litfin auf einem schlichten weißen Kreuz, das wie viele andere am Ufer der Spree direkt neben dem Reichstagsgebäude an die vielen Toten der deutschen Teilung erinnert.