Der tanzende Boxer
31. August 2013Es war ein Freitag, der sein Leben grundlegend veränderte. Genauer gesagt, der 9. Juni 1933. Johann Trollmann stieg vor rund 1500 Zuschauern im Sommergarten der Bockbierbrauerei in Berlin Kreuzberg in den Ring. Sein Ziel: Deutscher Meister im Halbschwergewicht zu werden. Sein Gegner: Adolf Witt. Zwei Boxer, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Trollmann, eigentlich Mittelgewicht und damit deutlich leichter und athletischer als Witt, tänzelte um ihn herum, wich seinem Gegner ständig aus, um ihn dann überraschend mit unterschiedlichen Schlagtechniken zuzusetzen. Witt dagegen kämpfte in der damals typischen Fuß-an-Fuß-und-Faust-an-Faust-Manier.
Klar, wen das Publikum liebte: Johann "Rukeli" Trollmann. Die Herren wegen seines damals ungewöhnlichen Boxstils, die Damen wegen seines Aussehens. "Er war ein Instinktboxer, der im Ring regelrecht tanzte, der seine Gegner mit Rück- und Seitwärtsbewegungen in die Irre führte, ganz im Stile des späteren Muhammad Alis", berichtet Manuel Trollmann. Seinen Großonkel hat er persönlich nicht kennengelernt, aber er hat in den letzten zehn Jahren sehr viel recherchiert und mit den letzten noch lebenden Zeitzeugen gesprochen. "Er muss sehr attraktiv gewesen sein." Fotos zeigen, warum die Frauen verrückt nach dem damals 26-jährigen aus Hannover waren: seine dunklen Locken, seine sinnlichen Lippen, sein bronzefarbener, athletischer Körper – "ja, er war ein Frauenschwarm und Charmeur", bestätigt Manuel Trollmann.
"Undeutsches" Boxen
Noch während des Kampfes fiel die Entscheidung: Die Kampfrichter beschlossen, das Ergebnis nicht zu werten. Die Zuschauer waren darüber empört und protestierten so vehement, dass Trollmann doch - unter Tränen - den Titel erhielt. Allerdings nur für wenige Tage. Dann wurde ihm dieser drei Tage später wieder entzogen. "Die Begründung war, dass Trollmann zu undeutsch boxe, weil er geheult und damit das Deutschtum beleidigt hätte", erklärt Kai Hilger, Kurator des Sport & Olympiamuseums in Köln. Der eigentliche Grund, warum Trollmann den Titel nicht gewinnen durfte, war ein anderer: seine Herkunft. Er war Sinto und damit im zunehmend rassistischen Klima des Jahres 1933 klares Opfer von Diskriminierung. Seine Geschichte erzählt nun das Sport & Olympiamuseum in Köln - und stellt damit zum ersten Mal überhaupt einen Sinto-Sportler vor.
Sechs Wochen später musste Trollmann wieder antreten. Diesmal sollte er gegen den kleineren und leichteren Gustav Eder, dem Meister im Weltergewicht, antreten. Die Idee der Nazifunktionäre: Eder sollte das erreichen, was Trollmann wenige Monate zuvor gegen den größeren und schweren Boxer Witt erreicht hatte - einen Sieg gegen den vermeintlich stärkeren Gegner. So sollte ihre These, die Überlegenheit der "arischen Herrenrasse", untermauert werden. Trollmann durfte nur unter strengsten Auflagen boxen. Unter Androhung seines Lizenzentzugs untersagten sie ihm seinen Stil, dem Gegner tänzelnd kein Ziel zu bieten und auszukontern.
Nazi-Persiflage im Ring
Als Trollmann, genannt Rukeli - was in der Sinti-Sprache die Verniedlichung von Baum bedeutet - erneut am selben Ort, im Sommergarten der Bockbierbrauerei in Berlin Kreuzberg, am 21. Juli 1933 in den Ring stieg, staunten die Zuschauer. Die Nazianhänger hingegen müssen geschäumt haben vor Wut. Trollmann hatte seine Haut mit weißem Mehl gepudert und seine Haare blondiert. Er stellte sich direkt vor seinen Gegner hin und ließ sich mit hängenden Armen ohne jegliche Gegenwehr k.o schlagen. "Ich glaube nicht, dass es ein politisches Statement war", spekuliert sein Großneffe. "Er wollte einfach nur protestieren und zeigen, dass könnt ihr mit mir, Johann Rukeli Trollmann, nicht machen." Doch sie konnten. Wenige Monate später wurde ihm die Boxlizenz entzogen.
Trotz all dieser Demütigungen zog Trollmann nach Meinung seines Großneffen nie in Erwägung, Deutschland zu verlassen. Selbst ein Angebot des berühmtesten deutschen Boxers Max Schmeling, Weltmeister im Schwergewicht 1930 und 1932, lehnte er laut Manuel Trollmann ab. "Schmelings Trainer und Manager hatten meinen Großonkel öfter bei Kämpfen gesehen und ihn gefragt, ob er die deutsche Jugend trainieren wolle. Dann wollten sie ihn in die USA holen." Doch Rukeli, der 1935 heiratete, lehnte ab. "Von ihm stammt der Spruch: Wenn ich den Turm der Marktkirche in Hannover nicht sehe, werde ich krank."
Gedemütigt, schikaniert, ermordet
Dann kam der Krieg. Sinti und Roma wurden, anders als die deutschen Juden, in den ersten Kriegsjahren noch zur Wehrmacht eingezogen. Trollmann musste an die Ostfront, wo er verwundet wurde. Im Juni 1942 wurde Rukeli verhaftet und zwangssterilisiert. "Die Begründung war, dass er geistig verrückt sei und man das den Nachfahren nicht zumuten könne", sagt Manuel Trollman. Ein halbes Jahr später trat der "Auschwitz"-Erlass in Kraft, der Sinti und Roma mit Juden gleichsetzte. Nun wurden auch die "Zigeuner", wie sie die Nationalsozialisten nannten, in Konzentrationslager gebracht - so auch Trollmann.
“Man dachte bis vor kurzem, dass er in Neugamme bei Hamburg verstorben sei an einer Lungenentzündung - das stand so in einem Totenbuch", berichtet Kurator Kai Hilger. Es gebe aber eine Aussage eines Mithäftlings, die sehr glaubwürdig sei und demnach sei Trollmann unter falschem Namen in ein Außenlager namens Wittenberge gebracht worden. "Dort ist er 1944 von einem Kapo (Anm. der Red.: Häftling eines Konzentrationslagers mit Leitungsfunktionen), der auch Box-Fan war, erkannt worden, und der hat ihn zum Kampf aufgefordert." Zunächst soll sich Trollmann laut Zeuge geweigert, ihn dann aber k.o. geschlagen haben. "Da hat sich der Kapo gerächt, ihn im Arbeitslager extrem schikaniert, bis er zusammenbrach, und dann hat der Kapo ihn erschlagen."
Ein Schicksaal unter vielen
Ein tragisches Ende eines viel zu kurzen Lebens, das von der Liebe zum Boxsport bestimmt und von den Ereignissen der Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus geprägt war. "Wie seine Boxkarriere ausgegangen wäre, wenn es rechtens gelaufen wäre, da sind sich die Boxexperten einig", erklärt Manuel Trollmann. "Er wäre zumindest Europameister, wenn nicht sogar Weltmeister geworden."
Trollmann war zu seiner Zeit berühmt und ist heute dennoch kaum mehr bekannt - ebenso wie viele andere gesellschaftlich erfolgreiche Sinti und Roma. Warum das so ist? "Selbst heute haben die Sinti und Roma nur sehr wenige gesellschaftliche Fürsprecher in Deutschland, und auch die mediale Berichterstattung ist nicht sehr wohlwollend", meint Iris Pinkepank, Pressesprecherin von Roma e.V. "Und wenn Minderheiten in Mehrheitsgesellschaften erfolgreich sind, verbergen sie oft ihre Herkunft, weil die Herkunft ihrer Meinung den Status gefährdet."
Nastase, Laubinger, Bamberger
Zu den berühmten Sinti- und Roma-Sportlern gehören beispielsweise lijae Nastase, der erfolgreichste rumänische Tennisspieler, der die Weltrangsliste angeführt hat und in den 70ern ein Tennisidol war. Oder Walter Laubinger, der in den 80er Jahren Fußballstar beim Hamburger SV und Kapitän der Jugendnationalmannschaft unter Berti Vogts war. Oder Jakob Bamberger, der 1934 bis 1936 Boxer in der deutschen Olympiamannschaft war. Weil sich über den Sport Botschaften gut vermitteln lassen, hat Roma e.V. die Reihe "Wir boxen uns durch - Vorbilder, Champions, Idole" ins Leben gerufen, die auf die Leistungen und Diskriminierungen von Sinti- und Roma-Sportlern aufmerksam machen soll.
Gegen das Vergessen kämpft seit Jahren auch Manuel Trollmann - mittlerweile erfolgreich. Es gibt einen Film und ein Buch über seinen Großonkel Rukeli Trollmann, Straßen sind nach ihm benannt, Denkmäler wurden ihm zu Ehren errichtet und Theaterstücke speziell für Kinder und Jugendliche inszeniert. "Das liegt mir besonders am Herzen: Es muss den Schülern nahe gebracht werden, wieso, weshalb und warum das damals passiert ist", sagt Manuel Trollmann. "Denn die Geschichte meines Großonkels ist die Geschichte der Sinti und Roma. Und die Zeit ist reif für dieses Thema."