Der schwule Priester zürnt seiner Kirche
5. Oktober 2015"Ich bin doch kein Sünder, nur weil ich schwul bin", empört sich Norbert Reicherts. Er regt sich immer noch auf. Dabei liegt schon ein langer Kampf hinter dem 51-Jährigen. In T-Shirt, Jeans und Holzfällerhemd sitzt er am Esstisch und sieht gar nicht aus wie ein Priester. "Kirche kann ein Schatz sein, aber ihr geht es nur um Machterhalt", sagt er, während sein Blick das selbstgemalte Bild von einem Bettler auf dem Petersplatz in Rom fixiert.
Er habe versucht, Dinge zu verändern, sagt Norbert Reicherts. Am Ende war er es, der sein Leben neu ordnete und der Kirche den Laufpass gab. Mit seinem Ehemann Christoph, auch er ein geweihter Priester, lebt er in einem Häuschen im Kölner Stadtteil Ostheim. Als "selbstständige katholische Priester" betreiben sie ein Zentrum für Theologie und Seelsorge. "Lichtblicke der Seele" heißt es. Menschen, ob schwul oder nicht, können hier Zuspruch, Trost und religiöse Betreuung für die Wechselfälle des Lebens finden. Ein kleiner, spartanisch ausgestatteter Andachtsraum ist auch da. Daneben arbeitet Reicherts in einer Beratungsstelle für Schwule und Lesben.
Klare Berufung
Mit seiner Kirche geht Reicherts hart ins Gericht. Das war nicht immer so: Als Jugendlicher engagierte er sich in der katholischen Jugendarbeit. Mit 21 trat er dem Paderborner Studienkolleg bei, fünf Jahre später dem Priesterseminar. Er studierte Philosophie und Theologie in Paderborn und Tübingen. Und noch bei seiner Priesterweihe 1992 fühlte er sich berufen zum Dienst an Gott und den Menschen. "Es war ein Befehl Gottes", lächelt er. "Ich fühlte mich verpflichtet, diesen Weg zu gehen."
Aber er ahnte, dass der Weg steinig würde. Schließlich war ihm seine homosexuelle Veranlagung von Anfang an bewusst. "Ich wusste um den Gegensatz zwischen kirchlicher Moral und meinen eigenen Bedürfnissen", sagt er. "Aber für mich war das kein Widerspruch". Reicherts glaubte, die Verhältnisse ändern zu können. "Ich wollte mich über katholisches Denken hinausentwickeln." Ohnehin glaubt Reicherts, dass 70 Prozent der katholischen Priester homosexuell sind. "Nicht alle leben es aus." Doch sei die "Kirche eine Gesellschaft, die viel voneinander weiß", ein geradezu "ideales Konstrukt für Schwule".
Mit 28 Jahren übernahm er seine erste Pfarrstelle in Hamm-Rhynern, wenig später in Dortmund-Lütgendortmund. Er hielt Gottesdienste ab und sah nach den Menschen. Und er erkannte, was für die Seelsorge das Wichtigste ist: die eigene Persönlichkeit. "Gerade in der Persönlichkeit erkennen die Menschen den Priester", sagt Reicherts. Nur wer bei sich sei, wer die eigenen Ängste und den eigenen Weg akzeptiere, könne für andere da sein und ihnen auf ihrem Weg helfen. So funktioniert Seelsorge, davon ist Reicherts überzeugt. Das verlange schon das biblische Gebot "Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst". "Und zu mir", betont er, "gehört eben das Schwulsein."
Der Priester kündigte
So entschied sich der junge Priester "bewusst", wie er sagt, gegen den Zölibat, die Verpflichtung zur Ehelosigkeit. Er schloß sich schwulen Priestergruppen an, nahm an ihren bundesweiten Treffen teil und lernte "im katholischen Untergrund" Christoph, seinen späteren Lebenspartner kennen, den Krankenhauspfarrer im benachbarten Bochum. Sie trafen sich. Sie zogen in eine gemeinsame Wohnung. Nicht erst da stolperte Reicherts über "Ungereimtheiten" im Pfarrbetrieb: Eltern etwa, die ihre Kinder taufen ließen, um ihnen einen Kindergartenplatz zu sichern. Wiederverheiratete Geschiedene, denen er als Pfarrer die heiligen Sakramente verweigern sollte. "Das ist wohl das Problem aller Religionen", vermutet Reicherts, "dass sie den Menschen den einzig richtigen Weg vorschreiben wollen." Der Priester schickte seiner Kirche die Kündigung.
Was folgte, kam nicht unerwartet: Einladung zu seinem Bischof, der sichtlich betroffen reagierte. Das Angebot einer "Auszeit", um vielleicht doch noch auf den rechten Weg zurückzufinden. Die Suspendierung. Und schließlich das Verbot, im Namen der katholischen Kirche Sakramente zu spenden. Täte er es dennoch, wären diese gültig. "Im Angesicht des Todes habe ich sogar die Verpflichtung dazu", wundert sich Reicherts über einen Hinweis im Suspensionsschreiben. Einen Schlussstrich unter die Trennung zog der Vatikan erst im vergangenen Jahr, als Rom den schwulen Priester in den Laienstand versetzte. "Direkte Gespräche", klagt Reicherts, "hat es dazu aber nie gegeben."
Mit dem Zölibat halte die Kirche ihre Priester gefügig, sagt Reicherts. Es gehe "ausschließlich um Machterhalt". Kirche definiere sich über Abgrenzung, auch von Schwulen und Lesben. Für sich selbst beschloss er: "Wenn ihr keine Seelsorge für diese Menschen macht, dann tue ich das." Denn dafür sei er immerhin Priester geworden. "Wann endlich", fragt der schwule Priester mit Blick auf die Familiensynode in Rom, "stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt?" Das wäre christlich, meint er. "Ich erwarte von Kirche nicht Mitleid oder Barmherzigkeit, sondern Akzeptanz."
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