"Der Schmerz lässt nicht nach"
11. März 2019Deutsche Welle: Frau Mayer, vor zehn Jahren, am 11. März 2009, haben Sie Ihre Tochter Nina verloren. Sie starb als eine von 15 Ermordeten beim Amoklauf von Winnenden. Lässt der Schmerz einer trauernden Mutter im Laufe der Jahre nach?
Gisela Mayer: Der Schmerz lässt nicht nach. Auch in zehn Jahren nicht. Er verändert sich nur. Er bleibt nicht als offene, blutende Wunde wie in der ersten Zeit. Er schließt sich, wie etwa eine Wunde sich schließt. Aber er bleibt Teil des Lebens und immer gegenwärtig.
Ihre Tochter arbeitete als junge Lehrerin an der Albertville-Realschule. Der 17-Jährige Täter kannte sie gar nicht. Wenn Sie an den Mörder Ihrer Tochter denken, welches Gefühl stellt sich dann ein?
Es war unendliche Wut und ein unendlicher Hass, als mir klar wurde, dass es keine Naturkatastrophe, kein Erdbeben war, weshalb meine Tochter sterben musste. Sondern dass wirklich ein junger Mensch sich entschlossen hat, zu töten und diesen Entschluss dann aktiv umgesetzt hat. Es war furchtbar schwer für mich, das auch nur ansatzweise zu verstehen. Und dann habe ich begonnen, mich mit dem Täter zu beschäftigen und heute ist das Bild ein anderes. Heute sehe ich einen sehr armseligen, von Hass zerfressenen jungen Mann, der selbst das Leben nie kennenlernen durfte. Der nie so etwas wie Freude am Leben empfunden hat. Und der aus diesem Grund diejenigen hasste, die genau das hatten. Heute ist er in meinen Augen ein sehr bedauernswerter Junge.
Hatten Sie Kontakt zu seinen Eltern?
Leider habe ich bis zum heutigen Tage nie Kontakt zu den Eltern gehabt. Ich habe es mehrere Male über Mittelsmänner versucht. Aber das ist mir bis heute verwehrt geblieben. Ich bin eigentlich sehr traurig darüber. Es geht mir überhaupt nicht darum, Schuld zuzusprechen. Das ist Sache des Gerichts, nicht meine. Es geht mir darum, die Atmosphäre in diesem Elternhaus zu erspüren. Um vielleicht Informationen zu bekommen über diesen Jungen. Denn es scheint mir bis zum heutigen Tage fast unbegreiflich, wie ein Junge, der in dieses Leben hineingeboren wurde, sich in 17 Jahren zu einem Menschen entwickelt hat, der dieses Leben, das ihm geschenkt wurde, so gehasst hat. Sich und alle anderen so gehasst hat, dass er sie eigentlich nur noch auslöschen konnte und sich selbst auch.
Hatte er als einzelner Mensch Schuld an dieser Tat? Oder ist unsere Gesellschaft mitverantwortlich?
Es war die Tat eines Einzelnen und die Schuld kann ihm auch niemals jemand nehmen. Aber es gibt die Mitschuld all derer, die nicht aufmerksam waren, die nicht hingesehen haben. Wir wissen heute, dass diese Tat in Winnenden fast drei Jahre Vorbereitungszeit hatte. Alle anderen Taten von denen ich weiß, hatten auch sehr, sehr lange Vorbereitungszeiten. Das sind Zeiten, in denen der spätere Täter sich intensiv mit dieser Planung auseinandersetzt und in der er auch erkennbare Warnsignale setzt.
Woran erkennt man denn, dass das eigene Kind Amok-gefährdet ist?
Im Fall von Winnenden war der deutlichste Hinweis das eigene Empfinden des Jungen. Er hat seine Eltern gebeten, ihn in psychotherapeutische Behandlung zu bringen. Er hat deutlich von Hassfantasien gesprochen. Man hat ihm nur nicht zugehört. Kennzeichen sind zudem Äußerungen, die Bewunderung für Täter zum Inhalt haben oder die Rechtfertigung von Massenmord. Es sind nie offene Ankündigungen, dass man Amok laufen wird. Es ist zudem der soziale Rückzug. Wenn diese jungen Männer kaum mehr soziale Kontakte im richtigen Leben haben, sich völlig zurückziehen in ihre eigene, zumeist virtuelle Welt und sich ganz viel beschäftigen mit früheren Taten. Und wenn sich ihr Interesse immer mehr und mehr einschränkt und immer mehr und mehr sich um Wut, Hass und Rache dreht an all denen, die ihnen übles wollen. Dann spätestens sollten wir aufmerksam werden.
Sie treffen sich regelmäßig mit jungen Menschen, die als Amok-gefährdet gelten. Warum tun Sie das?
Das ist im Grunde genommen ein ganz guter Gedanke gewesen, der damals von der Jugendgerichtshilfe an mich herangetragen wurde. Sinn und Zweck des Ganzen ist, diesen jungen Männern deutlich zu machen, was die Gedanken, die sie im virtuellen Raum hegen, in der Realität bedeuten. Das Ergebnis ist, dass all diesen jungen Männern erst in der Konfrontation mit mir klar wurde, was Mord und was das Töten eines Menschen wirklich bedeutet. "Das war für mich eigentlich immer so ein bisschen wie Kino, jetzt kapiere ich erst, was ich da wirklich sage" - so Originalton. Und da freue ich mich natürlich, denn dann weiß ich: Es hat jetzt jemand etwas verstanden.
Sie setzen sich seit 2009 auch für ein strengeres Waffenrecht ein und wollen Gewalt, etwa in Computerspielen, eindämmen. Sie sagen: "Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein!" Hat die Politik reagiert?
Es ist sehr viel Positives geschehen. Man hat den privaten Waffenbesitz kontrolliert, die Aufbewahrung von Schusswaffen in Privatwohnungen - ein gefährlicher Punkt. Wir haben eine erhöhte Aufmerksamkeit erreichen können gegenüber den Quellen von Gewalt im schulischen Kontext. Das heißt, wir haben mehr Präventionsprogramme, wir haben Präventionsbeauftragte, die sich genau um diese Dinge kümmern in den Schulen. Und es wurden zusätzlich Schulpsychologen eingestellt. Bei Weitem immer noch nicht genug. Aber es ist doch einiges Gute geschehen.
Macht die ständige Auseinandersetzung mit Gewalt und Amok ihre eigene Trauer nicht noch größer?
Meine eigene private Trauer ist da und bleibt, sie wird sich einfach weiter verändern. Es ist ein schönes Bild, das ich heute von meiner Tochter habe, wenn auch ein unendlich trauriges. Diese Arbeit ist grundsätzlich einfach sehr anstrengend. Es sind keine schönen Themen. Es ist die Auseinandersetzung mit all den Dingen in den Menschen, die wir besser nicht sehen wollen. Aber es ist wie am ersten Tag heute immer noch meine Überzeugung, dass es wichtig, richtig und sinnvoll und vor allem notwendig ist.
Sie sprechen von einem schönen Bild. Was für Erinnerungen haben Sie, wenn Sie am 11. März an Ihre Tochter Nina denken?
Es ist das Schöne an ihr in der Erinnerung geblieben. Sie ist heute ein Teil von mir in ihrer Lebendigkeit und in ihrer Liebe zum Leben und in ihrer Leichtigkeit, die sie immer hatte in ihrem jungen Leben. Das heißt nicht, dass ihr alles geschenkt wurde. Aber sie hatte einen so unerschütterlichen Glauben an das Gute auf dieser Welt und daran, dass sich immer alles schon irgendwie regeln wird. Dieses Bild ist bei mir geblieben und dieses Bild ist auch ein großer Trost für mich. Und heute schaffe ich es sogar zu lächeln, wenn ich an sie denke und nicht immer nur zu weinen.