Willy Brandt und die Künstler
23. Dezember 2013Die Begegnung war kurz und professionell: in der Bonner Galerie herrschte grosser Andrang an diesem kalten Februartag 1976. Der New Yorker Popkünstler Andy Warhol war gekommen, um Fotos von Willy Brandt zu machen. Warhol wollte den ehemaligen deutschen Bundeskanzler in seine Siebdruck-Serie der "Superstar-Portraits" aufnehmen, in der schon Marylin Monroe und der "Große Vorsitzende" Mao Tsetung verewigt waren. Das Treffen hatte der Galerist Hermann Wünsche, ein Freund des Künstlers, arrangiert. Brandt war geschmeichelt, machte aber zur Bedingung, dass ein Porträt auf der Kunstmesse in Düsseldorf zugunsten von Unicef versteigert würde.
Umringt von Fotografen, Kameraleuten und Journalisten flüchteten Brandt und Warhol in wortkargen "Small Talk". Der berühmte Popart-Künstler zückte eine Polaroid-Kamera, taxierte mit Profiblick unterschiedliche Blickwinkel und schoss 26 Fotos: was den Mann vor ihm politisch bewegte, interessierte ihn weniger. Er sucht die Aura des Politstars.Brandt, ganz Staatsmann a.D., versuchte einen würdevollen Gesichtsausdruck. Die Zigarette in der Hand gab ihm die nötige Lässigkeit. Noch einmal "Shake hands" für die Pressefotografen, dann war Warhol weg. Sechs Wochen später kamen die großen Siebdruck-Portraits fertig aus der "Factory": Brandt in Acrylfarben auf Leinwand. Heute ein Klassiker der Pop-Art.
Willy Brandt, der jetzt im Dezember 100 Jahre geworden wäre, hatte ein eher skeptisches Verhältnis zu Moderner Kunst. Mit Kommentaren und kulturpolitischen Einschätzungen hielt sich der SPD-Vorsitzende zurück. Ausstellungseröffnungen waren für ihn bildungsbürgerliches Pflichtprogramm. Doch er schätzte den persönlichen Kontakt zu Künstlern und Schriftstellern. Interessiert an anderen, auch unkonventionellen Sichtweisen auf die Welt und die politischen Konstellationen im Nachkriegs-Deutschland, pflegte Brandt per Brief regelmäßig Kontakt zu Marc Chagall, Oskar Kokoschka, Max Ernst und zu Georg Meistermann, dem er in den ersten Nachkriegsjahren begegnet war. Später sollte der Maler das offizielle Portrait von ihm für die Kanzlergalerie anfertigen.
Neue Wege: "Mehr Demokratie wagen"
Zu seinen berühmten Gartenfesten im Kanzleramt lud der SPD-Politiker gern Künstler, Schriftsteller, Verleger und namhafte Intellektuelle ein. Der Kontakt war ihm wichtig: von diesen Gesprächen nahm er neue Denkansätze mit in seine politische Alltagsarbeit. Außerdem eröffneten ihm die Künstlerkreise Zugang zu bürgerlichen Wählerschichten, die der SPD bislang eher verschlossen waren. Für Brandt war Demokratie eine geistige Ordnung, die von Meinungsvielfalt lebte: ein ganz neuer, moderner Politikstil.
Der Schriftsteller Günther Grass engagierte sich früh für Brandt: seit 1961 unterstützte er ihn mit Formulierungshilfen für seine Reden. Solche Kontakte waren dem Politiker wichtig, erinnert sich Juliane Lorenz, damals in der Künstlerszene um den Regisseur Rainer Werner Fassbinder dabei. "Brandt fühlte sich den Künsten zugeneigt. Er war ein Mann, der sich mit der Welt beschäftigte." Wie Künstler das auch tun.
'"Willy wählen" - für die "Es-Pe-De" auf Wahlkampfreise
1965 gründete Grass als intellektuelle Verstärkung das "Wahlkontor deutscher Schriftsteller": Zwanzig jüngere deutsche Schriftsteller, u.a. Peter Härtling, Klaus Roehler und Klaus Wagenbach schrieben für einen Stundenlohn von 10,- DM Werbeslogans und Texte für die "Es Pe De" und brachten frischen Wind in den Wahlkampf der deutschen Sozialdemokratie. Sie wollten das Salz in der Suppe der SPD sein.
Im Sommer 1969 reiste Günther Grass im Wahlkampf wochenlang mit einem VW-Bus quer durch die Bundesrepublik. Da er gerade mit seinem Roman "Die Blechtrommel" zu Weltruhm gekommen war, nutzte er seine Popularität und trat selbst in der tiefsten Provinz wortgewaltig für einen Politikwechsel in Deutschland und für Brandt als Kanzler ein. "Gestern war ich bei Günther Grass, der herumreist, um der SPD zum Gewinnen der Wahlen zu verhelfen," schrieb die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann an ihren Freund, den Komponisten Hans Werner Henze. Brandt sei die einzig mögliche seriöse Figur, schwärmt sie, "damit man überhaupt weitermachen kann, in diesem Land."
Denkanstösse von Kulturschaffenden
So dachten damals viele der jüngeren Generation in Deutschland, denen die konservative Ausrichtung der meisten Parteien das Wählen schwer machte. Der Nazigegner und Emigrant Willy Brandt verkörperte in den unruhigen 60er Jahren das "andere" Deutschland: eine Lichtgestalt in dem Muff der restaurativen Nach-Adenauer-Zeit, die so wenig weltoffen erschien. Brandt, der schon in seiner Berliner Zeit als deutscher Kennedy gefeiert wurde, versuchte seine an angestaubten sozial-demokratischen Traditionen orientierte Partei behutsam für neue Politikansätze zu öffnen. Den Wahl-Slogan "Mehr Demokratie wagen", schrieb ihm Grass in eines seiner Rede-Manuskripte. "Die damalige SPD, das muß man schon sagen, war eine Riesen-Herausforderung für eine Bundesrepublik der 60er, 70er Jahre," erzählt Juliane Lorenz."Willy Brandt war für uns ein anderes Deutschland".
Zwei der Söhne von Willy Brandt, Lars und Matthias, haben damals eine künstlerische Laufbahn gewählt. Lars arbeitet als freier Schriftsteller. In der Bonner Zeit half er dem Vater, seine Reden auszutüfteln. Matthias, der Jüngste, ist Schauspieler. Woher die künstlerische Ader der beiden kommt? "Das habe ich mich auch oft gefragt", sagt Peter Brandt, der älteste Sohn, nachdenklich bei einer Lesung in Bonn.
Er selbst hat sich für die Wissenschaft entschieden und lehrt als Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Er sieht den Grund für die Künstlerlaufbahn seiner Brüder in der hochpolitisierten Familien-Konstellation: "Ich vermute, daß die beiden Brüder zu sehr den politischen Vater und dann noch den politischen Bruder vor sich hatten. Da mußten sie sich einfach absetzen."
Hoffnungsträger für die rebellische 68er–Generation
Politisch engagierte Regisseure wie Alexander Kluge, Michael Verhoeven und Rainer Werner Fassbinder sahen in Willy Brandt einen Hoffnungsträger, der die SPD auch für Künstler und linke Intellektuelle wählbar machte. Filmcutterin Juliane Lorenz sieht das im Rückblick als Aufbruch in eine neue Ära der deutschen Politik. "Das war für diese Generation damals ein Zeichen: das ist ein Mensch und nicht nur ein Staatsmann. Ein Mensch, der vor einem Mahnmal steht in Polen, 1972, und in die Knie sinkt. Das ist für unsere Generation ein unglaubliches Zeichen gewesen."
Auch bekannte Schauspielerinnen wie Senta Berger und Inge Meysel, Schauspieler wie Martin Benrath, Helmut Griem und Harald Leipnitz, der Kabarettist Dieter Hildebrandt und populäre deutsche Showmaster wie Hans Joachim Kulenkampf engagierten sich zum ersten Mal öffentlich für eine politische Partei und ihren Spitzenkandidaten. "Im Gegensatz zu den allermeisten Bonner Politikern glaubte Brandt selber das meiste von dem, was er sagt." gab Kulenkampf in seiner Sendung "Einer wird Gewinnen" zum Besten - live vor Publikum.