Tagebuch aus Bayreuth: Teil 1
27. Juli 2013Nach Kurzbesuch im DW-Ü-Wagen vorne rechts neben dem Festspielhaus eile ich zur Reihe 26 oben links. Schwitzend erreiche ich meinen Platz in der Mitte. 34 Grad zeigt das Thermometer, es soll in den nächsten Tagen noch heißer werden. Warum schwitzen Männer stärker als Frauen? Ein schulterfreier Anzug, das wäre schon etwas Feines.
Unterwegs grüße ich kurz etliche Journalistenkollegen, die ich seit Jahren kenne. Die zwei links und rechts von mir möchten nebeneinander sitzen. Kein Problem meinerseits, aber eine Sitz-Walküre in der Reihe dahinter macht von ihrem Vetorecht Gebrauch. Unbegreiflich, denn bei meiner kleineren Größe hätte sie besser sehen können. Dennoch besteht sie auf Ordnung. Auch das ist Bayreuth - immer noch.
Es wird heiter geplaudert, auch noch in die ersten Sekunden des leisen, tiefen Tons aus dem Orchestergraben hinein. Doch dann wird es mucksmäuschenstill im Auditorium. Die Entstehung der Welt soll dieser Ton darstellen. Schnell kommt ein Zweiter, ein Dritter hinzu. Der Dreiklang weicht wellenförmigen Bewegungen der Streicher. Der Rhein!
Auf der Route 66
Vorhang auf. Das "Golden Motel" mit blauem nierenförmigem Schwimmbecken, einer Wäscheleine und der Tankstelle um die Ecke. Davor ein Straßenschild: "Route 66". Die Rheintöchter sind blond aufgetakelte Vamps. Diesmal brauche ich kein Opernglas: Kameraleute auf der Bühne filmen das Geschehen mit, so dass man Nahaufnahmen der Gesichter auf einer Leinwand hoch über die Bühne sieht. Die überlebensgroßen Bilder lenken ab.
Gott Wotan erscheint als Jack Nicholson-Typ mit Sonnenbrille, der mit Ehefrau Fricka und Schwägerin Freia auf dem Motelbett beim Dreier tändelt; die Riesen Fasolt und Fafner treten als Biker-Brutalos mit Baseballschläge an und die Erdenmutter Erda mit goldenem Paillettenkleid im weißen Pelzmantel: Immer wieder gibt es etwas zum Kichern.
Kurzweilig, trashig und grell im Stil der 60er Jahre geht es zu in Frank Castorfs Regie von "Das Rheingold", dem "Vorabend" in Richard Wagners Opernzyklus "Der Ring des Nibelungen". Götter und Nixen, Riesen, Zwerge und andere Unsterbliche tummeln sich in einer Geschichte von Verrat, Treue und Gier nach Lust, Liebe und Macht. Verstören oder provozieren können Castorfs "moderne" Bilder (immerhin sind sie ein halbes Jahrhundert alt) längst nicht mehr. Hat Bayreuth sein quasi-sakrales Image verloren? Längst!
Nichts ist, wie es war
Es ist meine 25. Saison bei den Wagnerfestspielen. Lange genug also, um darüber nachzudenken, wie sich das Publikum über die Jahre verändert hat. Die konservativen Alt-Wagnerianer sind nahezu ausgestorben. Die Besucher sind lockerer geworden, weniger ehrfürchtig vor dem Meister und dem Kult um den Grünen Hügel, auch wenn viele immer noch Jahre auf eine Karte warten müssen.
Ersatzreligion Wagner: Das war schon immer suspekt. Wir können uns von den quasi mystischen Vorstellungen um Wagner verabschieden. Gut so? Nichts ist eindeutig, vor allem nicht in der Wagnerwelt.
Ich weiß immer noch nicht, was ich von Castorfs auf Leinwand projizierten Bildern halten soll. Genial ist es schon: Man sieht die Gesichter und Figuren mal von der Seite, mal von vorn, mal von hinten, und man kann verfolgen, was sich gerade parallel im Tankstellencafé oder im Motelzimmer abspielt. Dieser 360-Grad-Blick ist eine große Bereicherung, läuft aber konträr zu Richard Wagners Festspielhaus-Konzept, bei dem das Auge ganz auf die Protagonisten gelenkt werden soll.
Die Projektion von Stand- und Bewegtbildern ist nichts Neues. Christoph Schlingensief hat sie gebraucht (erschlagend vielfältig und beliebig) oder Stefan Herheim (behutsam ergänzend). Das ist hier eine neue Qualität, denn ob man will oder nicht: Die Kamerabilder sind ein fremdbestimmtes Element, die meine Fantasie mal beflügeln, mal einschränken. Ist das die Aussage dieser Regie? Dass unsere Bilder heute weitgehend durch die Medien bestimmt sind? Eine starke Aussage wäre das schon.
Frau am Steuer
Zum Schluss, während die Götter in ihren Walhall ziehen, tanzen die Statisten im Café mit Zombieaugen den Twist. Und der schwarze Oldtimer-Cabrio auf der Bühne! Rein gefahren zur Tankstelle, am Ende mit einer Rheintochter am Steuer wieder rückwärts raus. Das sei der Running Gag während der Proben gewesen, erzählt eine Kollegin: Was ist, wenn sie den Rückwärtsgang nicht findet und die Karre in den Orchestergraben hineinfährt?
Äußerst kurzweilig dieses "Rheingold" also. Passt zum Stück, denn Wagner hat beim Einstieg in die Tetralogie mit Pathos gespart und stattdessen ein Kabinettstück mit schneller Dramaturgie abgeliefert. Bis auf einen einzigen, lautstarken Buhruf in den letzten Ton hinein (der Störenfried muss das geprobt haben), reagiert das Publikum mit herzlichem Applaus. Es waren zu viele amüsante Momente drin, um böse zu sein.
Castorf und Petrenko in ihren Bayreuth-Debüts
Wie viel hat das aber mit Wagners "Rheingold" zu tun? Frank Castorf, "Werkzertrümmerer" vom Dienst, hält sich an die Bayreuther Vorgaben, verändert nichts, interpretiert auch nicht besonders stark, sondern unterstreicht die Handlung stattdessen mit viel Klamauk. Wir wissen allerdings inzwischen, dass es in seinem "Ring" um Öl und Ölwirtschaft, das Gold unserer Zeit, gehen wird. Angefangen auf der Route 66.
Und zum Hören? Grandios sind Burkhard Ulrich als Mime und Günther Groissböck als Fasolt. Der Rest: überdurchschnittlich, Wolfgang Koch als Wotan etwas fade. Das kann sich noch steigern: Der Göttervater hat im weiteren Verlauf des "Ring" noch einiges zu tun.
Und der Dirigent Kirill Petrenko? Ich habe bereits mit Castorfs Dramaturg Patrick Seibert und mit der "Brünnhilde", Catherine Foster, gesprochen: Beide sind sich einig, dass Petrenko sich das erdenkliche Maximum an Probenzeit genommen und sein Debüt auf dem Grünen Hügel mit großer Sorgfalt vorbereitet habe. Es hat sich ausgezahlt. Petrenko hat bei diesem "kleinen" Stück (es dauert nur zweieinhalb Stunden) den großen Spannungsbogen vom Anfang bis zum Ende gespannt; trumpft auf, wenn nötig, hält sich zurück, wenn es angebracht erscheint.
Aber was war das störende zwitschernde Geräusch im Auditorium, das so lange gegen Ende des Einakters anhielt? Etwas aus dem Publikum vielleicht. Aber warum, um Wagners willen, meine ich, dass es diesmal anders aus dem Graben und auf der Bühne klingt? Irgendwie grell. Ich werde den Verdacht nicht los, dass technisch etwas im Theater verändert wurde. Das wäre ein Sakrileg und ein Frevel, zeitgenössischer Umgang mit Wagner hin oder her.