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Marsch der Lebenden: Gedenken in Auschwitz

19. April 2023

Am Holocaust-Gedenktag versammeln sich Jüdinnen und Juden aus aller Welt in Auschwitz. KZ-Überlebende, ihre Nachfahren, aber auch nichtjüdische Jugendliche setzen beim Marsch der Lebenden ein Zeichen gegen das Vergessen.

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Jugendliche laufen zwischen zwei Stacheldrahtzäunen hindurch, auf dem Rücken haben sie israelische Fahnen.
Der "Marsch der Lebenden" ermöglicht noch eine Begegnung der unterschiedlichen GenerationenBild: Kacper Pempel/Reuters

"Arbeit macht frei" - der Schriftzug am Stammlager I des Konzentrationslagers Auschwitz könnte nicht zynischer sein. Hier wurden den deportierten Häftlingen alle privaten Sachen abgenommen, ihnen wurden die Haare geschoren, sie erhielten die Lagerkleidung, wurden mit Nummern registriert und bekamen diese eintätowiert, kurzum: Sie wurden entmenschlicht.

Anfangs waren es vor allem polnische Widerstandskämpfer, Intellektuelle, sowjetische Kriegsgefangene und andere den Nationalsozialisten missliebige Menschen, die in dem deutschen KZ auf besetztem polnischem Gebiet an Hunger, Krankheiten und den elenden Bedingungen der Zwangsarbeit zugrunde gingen oder erschossen wurden. Ab 1942 begann im erweiterten Lagerteil Auschwitz-Birkenau der systematische Massenmord. Über 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz getötet, die meisten von ihnen waren jüdisch. 

Holocaust-Gedenktag: Gemeinsam gegen das Vergessen

Seit 1988 treffen sich in Auschwitz am "Yom HaShoa", dem nationalen israelischen Holocaust-Gedenktag, überlebende KZ-Häftlinge, ihre Kinder und Enkel und meist junge Jüdinnen und Juden aus aller Welt zum "March of the Living", zum Marsch der Lebenden. Der Name erinnert an den Todesmarsch bei der Auflösung des größten Konzentrationslagers 1945. Angesichts der Frontverschiebung im Osten und der herannahenden Alliierten sollten die Gefangenen das Lager verlassen. Bei eisiger Kälte wurden sie zu Fuß Richtung Westen getrieben, angepeitscht von SS-Männern, die erschöpfte Gefangene erschossen, sobald sie nicht weitergehen konnten.

Stacheldrahtzaun vor Gebäuden des Konzentrationslagers Auschwitz. Auf einem Schild steht: "Vorsicht. Hochspannung Lebensgefahr".
Ein Entkommen war nahezu unmöglich: Elektrisch geladene Stacheldrahtzäune umgaben das Gelände des KZ AuschwitzBild: Beata Zawrzel/picture alliance/NurPhoto

Gemeinsam gehen die Teilnehmenden am "Marsch der Lebenden", der 2023 am 18. April stattfindet, drei Kilometer vom Stammlager I zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Der "Marsch der Lebenden" ist ein Zeichen gegen das Vergessen, gerade angesichts von wieder erstarkendem Antisemitismus, und er ist ein Ausdruck lebendigen Erinnerns an die jüdischen Opfer.

Schulen in Auschwitz - plötzlich war es still

Mit dabei ist in diesem Jahr eine Gruppe Jugendlicher von einer Gesamtschule in Brandenburg. Sie besuchten das Stammlager Auschwitz I. Auf der Hinfahrt im Doppeldeckerbus ging es bei einigen Jungs noch um Fußballer und die Sorge, ob man nach dem Marsch der Lebenden noch "Champions League" schauen könne. Doch die Stimmung änderte sich nach der Ankunft schlagartig. Von der ersten Baracke bis zum Krematorium, die ganze ca. einstündige Führung lang, gab es kein Quatschen, kein Rumalbern, keine Kommentare; statt dessen ernste, konzentrierte Gesichter.

Jugendliche in blauen Jacken vor dem KZ Auschwitz
Viele Schülerinnen udn Schüler konnten die Tränen nicht zurückhalten Bild: Andrea Kasiske/DW

Auch dem 17-järigen Emil Jaden ging die Führung ziemlich unter die Haut, wie er sagt. Vieles wusste er schon, doch die Räume mit den Haaren, den Schuhen der Ermordeten - all das wirklich zu sehen, von den Schicksalen einzelner Menschen zu erfahren, das sei etwas völlig anderes.

In der Gesamtschule wird derzeit diskutiert, ob eine Fahrt nach Auschwitz obligatorisch sein sollte für die 11. Klassen. Pauline Knuth, 16 Jahre, ist sich nicht sicher. Schon bei der vorbereitenden Lesung hätten einige geweint. Man sollte vielleicht selbst entscheiden, ob man sich eine Fahrt nach Auschwitz zutraue oder ob das " zu viel" sei, sagt sie. Andererseits gäbe es auch eine Verantwortung, sich mit der deutschen Geschichte zu befassen. "Nicht Schuld, aber Verantwortung - auch in Hinblick auf heute, um daraus zu lernen und sensibel zu werden gegen jede Form von Rassismus, Antisemitismus oder Ausgrenzung."

Jugendliche stehen im KZ Auschwitz und halten eine große israelische Fahne
Deutsche und israelische Jugendliche waren beim Marsch der Lebenden gemeinsam unterwegs Bild: Andrea Kasiske/DW

Zusammenzustehen in einer gemeinsamen Welt - das ist auch die Botschaft der Bürgermeisterin von Kfar Yona in Israel, die ebenfalls mit einer Gruppe von Jugendlichen angereist ist. Das ist auch deshalb besonders, weil die regulären Auschwitzfahrten der israelischen Schulen wegen Differenzen zwischen Polen und Israel seit zwei Jahren ausgesetzt sind. Der 17-jährige Shani Shmidor ist beeindruckt: "Wir sind Juden, wir sind stolz hier zu sein, wir leben! Das ist nicht ein Ort des Todes, sondern des Lebens."

Persönliche Begegnung mit Zeitzeugen möglich

Die Zahl der Zeitzeugen, die von den Gräueltaten berichten können, wird immer kleiner. Doch noch gibt es Überlebende - wie Eva Umlauf. Die slowakisch-deutsche Kinderärztin und Psychotherapeutin kam 1944 als Zweijährige mit ihrer Mutter ins KZ Auschwitz. Beide überlebten, ebenso ihre Schwester Nora, die dort geboren wurde. Erst 2014 fing Eva Umlauf an, öffentlich über das Erlebte zu sprechen.

Eva Umlauf steht an einem Rednerpult, hinter ihr eine Wand mit Fotos, die Porträts zeigen.
Eva Umlauf sprach auch beim Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2023 als Überlebende in Auschwitz-BirkenauBild: Beata Zawrzel/NurPhoto/picture alliance

Für Philipp Doczi, von der Organisation MoRaH (March of Remembrance and Hope - Austria), der Eva Umlauf dieses Jahr für das Zeitzeugengespräch beim "Marsch der Lebenden" gewinnen konnte, ist das "persönliche Erleben" und die damit verbundene Möglichkeit, Fragen zu stellen, besonders wichtig. Er kommt mit einer Delegation von 1000 österreichischen Jugendlichen nach Auschwitz. Gemeinsam mit 230 deutschen Schülern und Schülerinnen aus Brandenburg nehmen sie an dem Marsch teil und treffen dann die Zeitzeugin, die eine der jüngsten Überlebenden des KZ Auschwitz ist.

Auch Dieter Starke, der die Brandenburger Jugendlichen begleitet, weiß von früheren Reisen, dass diese persönlichen Begegnungen keinen der Teilnehmer "kalt" lassen. Der Gesprächsbedarf anschließend sei riesig. Zudem werden die deutschen Jugendlichen mit israelischen Altersgenossen zusammentreffen und sich austauschen. Es gehe auch um die Fragen, wie sie Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung heutzutage erlebten und wie sie damit umgingen, sagt er.

Der "Marsch der Lebenden" als Zeichen lebendiger jüdischer Kultur 

Dass der "Marsch der Lebenden" offen für Nichtjüdinnen und -juden  ist, war nicht immer so. 2005 wurde erstmals eine deutsche christliche Delegation zugelassen. 2022 waren sogar Vertreter der Vereinigten Arabischen Emirate mit dabei. Eine Geste der Solidarität, die immerhin nicht ganz selbstverständlich ist. Dieses Jahr werden an die 10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus aller Welt erwartet - so viele wie vor der Corona-Pandemie.

Ein älterer Herr in Häftlingskleidung mit Tora-Rolle hält die Hand einer jungen Frau, die ebenfalls Häftlingskleidung trägt - mit Davidstern und Nummer. Sie trägt eine Fahne.
Seite an Seite - 2018 kam der Holocaust-Überlebende Edward Mosberg mit einer Nachfahrin zum "Marsch der Lebenden"Bild: Reuters/K. Pempel

"Da kommt es schon zu einer Art Clash of Culture", meint Philipp Doczi: Wenn zum Beispiel Juden aus Südamerika in Auschwitz tanzen und singen, habe das anfangs merkwürdig auf ihn gewirkt. Es zeige aber, dass es auch darum gehe, die Überlebenden und die lebendige jüdische Kultur zu feiern. Der "Marsch der Lebenden" setzt nicht nur ein eindrucksvolles Zeichen gegen das Vergessen, sondern auch für jüdisches Leben insgesamt, jetzt und in der Zukunft.

Dies ist eine aktualisierte Fassung des Artikels vom 17.04.2023.