Am Abgrund
9. Juli 2007Aufräumarbeiten nach Bombenanschlägen gehören seit Monaten zum Alltag in Beirut und Umgebung. Die Libanesen fürchten sich, sagt Naida Meyassi, die Besitzerin einer Modeboutique. "Es ist schrecklich. Wir haben Angst, wir sind traurig, wir denken an unsere Kinder, an unsere Zukunft", klagt sie. "Wie lange wird es noch so weitergehen? Bleibt es so, hört es auf?"
Regelmäßige Bomben-Explosionen, ein tödliches Attentat auf den antisyrischen Parlaments-Abgeordneten Walid Eido, eine Auto-Bombe im Südlibanon, die sechs spanische UNIFIL-Soldaten tötete - die Gewalt scheint kein Ende zu nehmen. Hinzu kommt der Kampf der libanesischen Armee gegen die El-Kaida-nahe Gruppe “Fatah al Islam” im nordlibanesischen Palästinenser-Lager “Nahr al Bared” mit bislang mehr als 150 Toten.
Langer Arm Syriens?
Viele Libanesen sehen hinter den permanenten Gewaltausbrüchen den langen Arm Syriens - doch Damaskus dementiert. Die Angst geht um im Libanon, nicht nur vor weiteren Anschlägen und möglicherweise einem Bürgerkrieg. Angst bestimmt auch die Politiker der pro-westlichen Rumpf-Regierung sowie der von Syrien und dem Iran unterstützen Opposition.
Das Land sei gespalten wie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr, sagt Sami Baroudi, Politik-Wissenschaftler an der “Lebanese American University” in Beirut. Der Krieg, der am 12. Juli 2006 ausbrach, stelle eine Zäsur dar. "Der Krieg hat die noch bestehenden Verbindungen zwischen den verschiedenen libanesischen Gruppen weitgehend zerfressen", sagt er. "Ich glaube, er hat dem ohnehin schwachen System einen massiven Schock verpasst, von dem sich das Land nicht erholt hat."
Streit auf allen Ebenen
Jegliches Vertrauen zwischen den anti-syrischen Politikern um Premierminister Fuad Siniora und der Opposition, angeführt von der radikal-schiitischen Hisbollah sowie Christengeneral Michel Aoun, ist zusammengebrochen. Die von der radikal-schiitischen Hisbollah angeführte Opposition fordert seit November 2006 die Formierung einer Regierung der nationalen Einheit, in der die Opposition stärker vertreten ist. Um diese Forderung zu unterstreichen, haben die schiitischen Minister das Kabinett Siniora verlassen. Somit ist die größte Bevölkerungsgruppe des Libanon in der Regierung nicht mehr vertreten, was gegen das Konsens-Prinzip verstößt, auf das der Staat gebaut ist.
Die Kontrahenten reden nicht einmal mehr direkt miteinander. Beide Seiten glauben, es gehe bei dieser Auseinandersetzung um ihre Existenz, meint ein hochrangiger westlicher Diplomat. Das pro-westliche Regierungsbündnis befürchtet, die Hisbollah wolle die verhassten Syrer durch die Hintertür wieder ins Land holen. Die syrischen Truppen waren im Mai 2005 nach mehr als 30 Jahren im Libanon auf internationalen Druck nach dem Attentat gegen Ex-Premier Rafik Hariri abgezogen worden.
Syrisch-iranische Agenda?
Walid Jumblatt, ein einflussreicher Politiker des Regierungslagers, glaubt, nur ein Wunder könne die Libanesen noch retten. "Wir liegen ideologisch, praktisch und politisch im Streit. Uns trennen Welten", sagt er. "Die Opposition hat eine völlig andere Vorstellung vom Libanon. Für sie existiert der Libanon nicht als unabhängiges Land."
Die Hisbollah wolle eine syrisch-iranische Agenda umsetzen, so Jumblatt. Auf der anderen Seite befürchtet Hisbollah, die - wie sie sagt - "pro-amerikanische Marionetten-Regierung Sinioras" habe nur ein Ziel: Die schwer bewaffnete "Partei Gottes" auszuschalten, sie am liebsten zu vernichten und den Libanon fest in der amerikanisch-westlichen Einflusszone zu verankern. Das ist für die Schiiten-Partei, die sich vor allem als Widerstands-Bewegung gegen Israel und westlichen Imperialismus sieht, ein rotes Tuch.
Verhärtete Positionen
Das Zeltlager der Opposition vor dem Regierungssitz wird immer leerer. Die Demonstranten haben mit den Protesten seit Dezember ihre Forderungen bis jetzt nicht durchsetzen können. Hisbollah habe nicht mit der massiven Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für die Siniora-Regierung gerechnet, so Hisbollah-Expertin Amal Saad-Ghorayeb von der “Carnegie Stiftung” für internationalen Frieden: "Ich erwarte, dass sich die Position der Hisbollah weiter verhärtet. Sie werden noch intensiver auf eine stärkere Beteiligung im Kabinett drängen, denn die Siniora-Regierung wird immer mehr als Instrument der Amerikaner angesehen."
Der Libanon befindet sich in einer Sackgasse, beide Seiten sind politisch etwa gleich stark, keiner will nachgeben. Im Herbst muss ein neuer Präsident gewählt werden, das sollte im Konsens geschehen. Falls das nicht gelingt, rechnen Beobachter mit der Bildung einer Parallel-Regierung der Opposition und noch mehr Chaos. Die einzige Chance für die Libanesen, glaubt Walid Jumblatt, sei eine Verständigung der regionalen und internationalen Mächte, die im Libanon einen Stellvertreter-Krieg führen: Syrien, Iran, Saudi-Arabien, die USA und Frankreich: "Wir müssen warten bis die regionalen Umstände einen unabhängigen Libanon begünstigen. Das ist alles."