25.000 suchen Land
29. Oktober 2007Für die meisten Bewohner der indischen Hauptstadt Neu-Delhi und Umgebung sind Staus und verstopfte Straßen nichts Ungewöhnliches. Doch das Chaos, das Teile der Millionen-Metropole seit dem Wochenende lahm legt, lässt auch die Hauptstädter aufhorchen. Rund 25.000 landlose Bauern und Angehörige der indigenen Bevölkerung aus allen Teilen des Landes sind vor einem Monat in der zentralindischen Stadt Gwalior zusammengekommen, um in die 350 Kilometer entfernte Hauptstadt zu marschieren: Dort sind sie nun angekommen und harren in einem Camp aus. Ihre Forderung: Eine gerechtere Landverteilung und bessere Lebensbedingungen.
Der Marsch der Landlosen weckt Erinnerungen an die friedliche Protestbewegung Mahatma Gandhis, dem Anführer der indischen Freiheitsbewegung, der seinen Kampf insbesondere dem Schicksal der Benachteiligten widmete. Nach der Staatsgründung sollte es gerade ihnen im neuen Indien besser gehen. Doch mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit sehen sich Millionen von Indern in den ländlichen Regionen vom Wirtschafts-Boom der Nation ausgeschlossen.
Mehr Boden für den Boom
Mehr als zwei Drittel der indischen Bevölkerung leben und arbeiten auf dem Land. Rund 450 Millionen Inder existieren unterhalb der Armutsgrenze und leben mit weniger als einem Dollar pro Tag. Eine landlose Bauernfamilie etwa im zentralindischen Flächenstaat Maharashtra hat jährlich sogar nur 275 Dollar zur Verfügung. Die Organisatoren des Marsches sagen, dass 40 Prozent aller Inder mittlerweile Landlose sind.
Für viele der Landlosen ist der rapide Aufschwung sogar zu einem direkten Gegner geworden. Investoren aus dem In- und Ausland benötigen immer mehr Land für Produktionsstätten oder die Rohstoffförderung, viele davon in sogenannten Sonderwirtschaftszonen, die mit ihren Niedrigsteuern locken. Auch staatliche Stellen beanspruchen mehr Land, etwa für Infrastrukturprojekte oder Nationalparks. Bauern, die in diesen Gegenden leben und arbeiten, haben oft keine Wahl, wenn sie eine Abfindung präsentiert bekommen, um das Land zu verlassen. Oft ist nicht einmal klar, wem der Boden überhaupt gehört, Abfindungen fallen oft zu gering aus. Schuld daran sind nicht zuletzt auch korrupte Offizielle.
Nationale Land-Behörde gefordert
Entsprechend fallen die Forderungen der Protestler aus, sagt die indische Journalistin Saher Mahmood, die den Marsch begleitet hat. "Sie fordern, dass eine nationale Behörde eingerichtet wird, die die Land-Verteilung beaufsichtigt und transparent gestaltet." Außerdem sollten strittige Claims in besonderen Gerichten schnell geklärt werden können. "Bisher dauert die Klärung sehr lange – in einigen Fällen bis zu 20 Jahre", sagt Mahmood. Schließlich fordern die Marschierer auch ein "Single Window" – eine einzige Anlaufstelle für Beschwerden statt des bisher üblichen bürokratischen Spießrutenlaufs.
Der einmonatige Marsch auf die Hauptstadt ist nur der Höhepunkt eines Trends, der immer mehr Indern und auch dem Ausland die neuen Herausforderungen für das Land bewusst macht und das Bild von "Shining India" eintrübt – ein Begriff der von der nationalistisch orientierten Vorgängerregierung in Neu-Delhi geprägt wurde. So gingen in den vergangenen Monaten immer öfter Meldungen über Selbstmorde verzweifelter Farmer durch die indische Presse.
"Moderne Schuldknechtschaft"
"Die Situation der Landlosen entspricht einer modernen Schuldknechtschaft", sagt Bianca Stachoske vom Institut für Asien-Studien in Hamburg. Häufig müssten sie sich sogar Geld vom Landeigner leihen, um Saatgut und Dünger zu kaufen. "Wenn schlechtes Wetter dann eine Ernte zunichte macht, gehen ihre Existenzen verloren." Auf Dauer könnten die Regierungen in Delhi und den Bundesstaaten das Problem nicht ignorieren. Wenn sich an der Situation der Landlosen nichts entscheidend ändert, "wird dies die Landflucht noch beschleunigen", sagt sie. "Doch in den großen Städten gibt es für diese Menschen keine Nischen mehr, die sie besetzen könnten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten."
Die 25.000 wollen so lange in der Hauptstadt ausharren, bis die Regierung sich offiziell ihres Problems annimmt. Konkrete politische Entscheidungen wird es nicht geben, sagt Saher Mahmood. Das wissen auch die Marschierer. "Ihnen geht es vielmehr darum, das Bewusstsein für ihr Problem zu stärken und das Thema zentral auf der innenpolitischen Agenda zu platzieren." Es sieht alles danach aus, dass ihnen dies gelingen könnte. Sonia Gandhi, die Vorsitzende der regierenden Kongress-Partei, hat sich bereits mit den Protestlern getroffen. Das Büro von Premier Manmohan Singh ließ sogar verkünden, man überlege die Schaffung eines Nationalen Land-Reform-Rats, der vom Premier höchstpersönlich geleitet werden soll.
Strukturwandel in der Landwirtschaft
Es steht außer Frage, dass mehr Land für die Landlosen vielen Menschen wieder eine Lebensgrundlage schaffen könnte: Die Möglichkeit genug zu ernten, um sich und ihre Familien zu ernähren. Doch ein Strukturwandel ist absehbar, sagt Jaskaran Teja, ein ehemaliger indischer UN-Botschafter. "Der wirtschaftliche Boom Indiens wird auch den Agrarsektor nachhaltig verändern." Große landwirtschaftliche Unternehmen würden immer stärker und produzierten zudem effizienter als die Farmer. Die Politik müsse sehen, wie sie die Bauern besser in die Entwicklungen einbezieht, so Teja. "Das kann weder sofort noch allein in Delhi entschieden werden. Es ist vielmehr ein langfristiger Prozess, der besonders auf regionaler Ebene angegangen werden muss."