Der Kreml nimmt TikTok ins Visier
15. März 2021Ein Song dröhnt in endloser Wiederholungsschleife. Zwei junge Frauen üben dazu synchron eine Choreographie ein. Rund zehn junge Leute sitzen auf weißen und goldenen Sofas im barocken Stil und starren auf ihre Mobiltelefone. Sie befinden sich im sogenannten TikTok-Haus in Moskau.
Die chinesische, schnell wachsende Social-Media-Plattform TikTok verfügt in Russland bereits über 20 Millionen Nutzer und hat damit Facebook abgehängt. Das TikTok-Haus in Moskau wird von der PR-Agentur "Social Stars" betrieben, die rund 20 Blogger betreut. Am Wochenende kommen viele von ihnen regelmäßig in das Apartment und arbeiten dort an neuen Beiträgen.
Unter den Bloggern haben einige mehr als eine Million Follower. Um diese Anzahl halten zu können, posten sie zwei bis drei Videos pro Tag. Bei TikTok erscheinen diese Videos in einer personalisierten Timeline.
Werbung im Strampelanzug
Die meisten Blogger von der Agentur "Social Stars" posten unpolitische Inhalte: Es geht um die neuesten Trends beim Tanzen, um Wettbewerbe und lustige, scherzhafte Inszenierungen. Eine der Bloggerinnnen, die sich nach dem Namen ihrer bevorzugten Schokoladenfirma "Milka" nennt, filmt sich regelmäßig beim Essen oder Auspacken von Schokoriegeln. Sie trägt einen lila-weißen Strampler und tippt mit ebenfalls lilafarbenen Fingernägeln auf ihr Handy.
Auf den ersten Blick scheint es schwer vorstellbar, dass diese Bloggerinnen und Blogger die neueste Online-Bedrohung des Kremls darstellen sollen. Doch die jüngste Protestwelle in Russland zur Unterstützung von Alexej Nawalny hat die Anzahl der Kreml-kritischen Videos auf TikTok signifikant erhöht.
So filmten sich russische Teenager dabei, wie sie die Porträts von Russlands Präsident Wladimir Putin in Klassenräumen durch Nawalny-Bilder austauschten. In einem anderen viralen Trend zeigten sich Nawalny-Anhänger bei den Vorbereitungen zu ihren Protesten gegen die Inhaftierung des Oppositionsführers.
Sanktionen gegen Twitter
Die russische Regulierungs-, Aufsichts- und Zensurbehörde für Massenmedien, Telekommunikation und Datenschutz, Roskomnadzor, verlangte daraufhin von TikTok, Facebook und Twitter, die Videos zu entfernen. Minderjährige würden in diesen Posts zur Teilnahme an unerlaubten Protesten aufgerufen, lautete die Begründung.
In der vergangenen Woche drosselten die russischen Aufsichtsbehörden die Geschwindigkeit auf Twitter, weil die Plattform anscheinend die tausenden von Posts nicht entfernt hatte, darunter auch Tweets zu den Themen Selbstmord, Drogen und Kinderpornographie. Roskomnadzor drohte Twitter mit einer kompletten Abschaltung, falls es die Vorgaben nicht einhalten sollte - eine eindeutige Warnung an die anderen Social-Media-Netzwerke.
Für die Blogger und das Moskauer TikTok-Haus war die plötzliche Welle von politischen Inhalten auf der Plattform in den vergangenen Monaten ein unerwarteter Schock. Die meisten von ihnen beteuern, dass sie mit Politik nichts zu tun haben wollen.
"Bitte keine Politik"
Die 17-jährige TikTokerin Veronika Reznikova erklärt, sie hoffe, dass es sich bei den politischen Videos um einen kurzfristigen Trend handele. In ihren beliebtesten Videos zeigt sich die Jugendliche als Schauspielerin. Besonders erfolgreich war zum Beispiel ihr Beitrag "Wenn ich weine oder traurig aussehe".
"Während der Proteste gab es in meinem Feed keinen der üblichen Beiträge, sondern nur Posts zu Nawalny und Putin, oder wer für oder wer gegen wen ist. Das hat mich zum Ausrasten gebracht. Ich bin ein paar Tage lang gar nicht auf die Plattform gegangen", sagt Reznikova.
Die 28-jährige Fitnesstrainerin Diana Sonina lehnt politische Inhalte auf TikTok ebenfalls ab. "Es ist eine Social-Media-Plattform, auf der die Leute sich ausdrücken, ihre Talente und neue Ideen einbringen können", sagt sie. "Es gibt schon so viele schlechte Nachrichten, wenn die jetzt auch auf TikTok geteilt werden, geraten wir in den Sog all dieser Probleme", fürchtet sie.
Unterhaltung langweilt
Einer der Inhaber des TikTok-Hauses sieht das anders. Bildungsinhalte würden zurzeit sehr stark nachgefragt, meint Maxim Petrenchuk. Diese Veränderung könnte auch dazu führen, dass sich politische Inhalte verstetigen.
"Die Leute sind der reinen Unterhaltung überdrüssig geworden", sagt er. "TikTok geht mehr in die Richtung Bildungsinhalte und Expertenwissen". Außerdem verändere sich das Publikum der Plattform, es kämen auch ältere Nutzer hinzu.
Der Produzent Evgeny Osadchy von der Agentur schaut sich die Videos der Influencer an und rät zur Vorsicht. Weil viele Leute wegen ihrer Beiträge auf Social-Media-Plattformen festgenommen würden oder Bußgelder zahlen müssten, rät er "seinen" Leuten, um bestimmte Themen einen Bogen zu machen. Dazu gehörten Politik, Gender und die Rechte von Schwulen und Lesben.
Kreml verschärft Kontrolle
Schon seit Jahren nehmen Internetzensur und Kontrolle von Online-Medien durch die russischen Behörden zu. Dazu gehört auch der Druck auf Social-Media-Firmen, ihre Daten auf russischen Servern zu speichern und Filialen vor Ort in Moskau zu eröffnen. Zudem können Blogger als "ausländische Agenten" eingestuft werden.
"Der einzige Grund, warum die Behörden Social-Media-Plattformen wie Youtube noch nicht komplett gesperrt haben, sind mächtige russische Staatskonzerne", meint Sarkis Darbinyan von der Nichtregierungsorganisation "Roskomsvoboda", die sich für ein freies Internet einsetzt. "Für sie sind diese Kanäle wichtig."
Erst stigmatisiert, dann wütend
Darbinyan ist davon überzeugt, dass der Kreml TikTok als expandierendes Netzwerk auf dem Radar hat. Und nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Abbas Gallyamov könnte die junge Nutzerschaft der Plattform für den Kreml sogar eine besondere Bedrohung darstellen.
Knapp 60 Prozent der TikTok-Nutzer in Russland seien jünger als 35 Jahre. "Die Protestbewegung hat sich wesentlich verjüngt, und die politische Opposition findet unter jüngeren Menschen mehr Gefolgschaft als bei den Älteren", sagt Gallyamov.
Zurück im TikTok-Haus. Produzent Maxim Petrenchuk ist der Meinung, dass der Kreml auf die vermeintliche Bedrohung komplett falsch reagiert. "Die Strategie der Behörden, Druck auszuüben und Bloggerinnen und Blogger als Mitglieder der Opposition darzustellen, kann zu einer Politisierung der TikTok-Nutzer führen", ist er überzeugt.
"Mit Verboten drohen hilft nicht, es sorgt lediglich für Verärgerung", sagt Petrenchuk. "Die meisten Blogger sind weder für noch gegen Putin, sie wollen einfach ihr Ding machen. Aber wenn sie stigmatisiert und als Taugenichtse beschimpft werden, dann fühlen sie sich ausgeschlossen und werden wütend auf die Regierung."
Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.