Der bedrohte Heilige
24. Oktober 2017Sonnenuntergang in Rishikesh, einer indischen Stadt am Fuße des Himalayas. Hunderte Einwohner haben sich am Ganges versammelt, um die Göttin des Flusses zu preisen. Sie singen Lieder und führen das Yajna durch, ein hinduistisches Opferritual, das an einem offenen Feuer vollzogen wird, oft begleitet vom Singen von Mantras.
Seit Jahrhunderten wird Abend für Abend dem Fluss dafür gedankt, dass er fließt. Die Luft riecht nach Kuhdung, Butter und Räucherwerk aus Sandelholz. Doch heute sorgen sich die Gläubigen, dass ihr mächtiger Ganges bald kaum mehr als ein Rinnsal sein könnte. Dabei steht er für Millionen Inder im Zentrum von Religion, Kultur und Wirtschaft.
"Ich habe noch nie gesehen, dass der Fluss so wenig Wasser hat", sagt Gauri Pandey. Der Schuster kommt seit 45 Jahren hierher, um zu beten. "Ich habe Menschen gesehen, die sind im Ganges zu einer anderen Sandbank gewatet, und das Wasser stand ihnen nur bis zur Hüfte. Manche sagen, wenn das so weitergeht, besteht die Gefahr, dass der Ganges in den nächsten dreißig Jahren austrocknet."
Schwindende Gletscher
Es gibt verschiedene Vorhersagen und Informationen über den Wasserstand. Aber der WWF hat den 2500 Kilometer langen Ganges zu einem der am meisten gefährdeten Flüsse der Welt erklärt. Wissenschaftler und Umweltschützer machen steigende Temperaturen und zurückweichende Gletscher dafür verantwortlich.
Zu siebzig Prozent speist der Gangotrigletscher den Fluss. Er liegt mehr als 5000 Meter über dem Meeresspiegel auf der indischen Seite des verschneiten Himalayas. Doch der Gletscher schrumpft heute fast doppelt so schnell wie vor zwanzig Jahren - um zweiundzwanzig Meter jährlich.
"Der Gletscher ist in 50.000 Jahren um fast 40 Kilometer geschrumpft", sagt Milap Chand Sharma. Er ist Indiens führender Gletscherforscher und Professor an der Jawaharlal Nehru Universität in New Delhi. Aber, fügt er hinzu, Wissenschaftler machen den vom Menschen gemachten Klimawandel für den schnelleren Rückgang verantwortlich. Auch die Schneefälle im Winter sind zurückgegangen. Sie fehlen, um den Gletscher aufrecht zu erhalten, und damit gibt es auch weniger Wasser, das jedes Jahr in den Fluss gelangt.
Mahesh Sharma, ein Journalist, der an den abendlichen Gebeten teilnimmt, hat die Eismassen in den vergangenen Jahren mehr als fünfzig Mal besucht und die Auswirkungen mit eigenen Augen gesehen. "Die Schneegrenze hat sich nach oben verschoben", sagt er. "Außerdem hat sich das Schneegebiet verringert", selbst auf 5000 Metern hat man "nicht das Gefühl, das man warme Sachen tragen müsste."
Folgen für die Menschen
Der 2520 Kilometer lange Ganges ist nicht nur für das spirituelle Leben Indiens wichtig. Der Fluss spielt auch im alltägliche Leben eine bedeutende Rolle, versorgt er doch 500 Millionen Menschen mit Trinkwasser und Wasser für die Landwirtschaft. Acht Bundesstaaten in Indien sind bereits von Dürre bedroht. Nach Angaben des International Water Management Institute (IWMI) wird die Wassernachfrage wegen der Industrie und der zunehmenden Bevölkerung bis zum Jahr 2050 um 32 Prozent steigen.
Auf einem Markt in Haridwar verkauft Kamal Barua Fisch. Früher lebte er in einem Dorf in der Nähe der westbengalischen Stadt Farakka. Weil es hier aber heute nicht mehr genug Wasser gibt und er nicht mehr genug fangen kann, musste er mit seiner Familie umziehen. Sie waren nicht die einzigen, die die Heimat verlassen mussten. "Mein Dorf lag an einem der größten Flüsse der Welt. Nie hätte ich gedacht, in meinem Leben einmal mit Wasserknappheit konfrontiert zu sein", sagt er.
Umweltverschmutzung, nicht Klimawandel
Aber das ist nicht das einzige Problem. Wenn das Wasser aus den Bergen kommt, ist es kristallklar. Doch je weiter es durch die ausgedehnte Landschaft und durch die aufstrebenden Städte in Richtung Meer fließt, desto dreckiger wird es. Kommt es in der Bucht von Bengalen an, ist das Wasser nur noch eine dreckige Suppe.
Abwasser, Agrar- und Industrieabfälle haben den Ganges zum zweitschmutzigsten Fluss der Welt gemacht. Schmutziger ist nur noch der Citarum in Indonesien. Die Menschen bezahlen das mit ihrer Gesundheit. Magen- und Darminfektionen sowie Typhus haben sich ausgebreitet. Mehr als 115.000 Menschen sind nach Angaben der WHO 2012 wegen mangelnder Wasserqualität und Hygiene in Indien gestorben. Und das National Cancer Registry Program berichtet von einer größeren Zahl von Krebserkrankungen bei Menschen, die an den Ufern des Ganges leben.
Indiens Regierung hat mehr als 2,5 Milliarden Euro investiert, um die verdreckten Gewässer zu reinigen. Das Reinigen hat bis dato eine größere Bedeutung, auch vor der Frage der Verfügbarkeit von Wasser, sagt U.P. Singh, Generaldirektor der National Mission for a Clean Ganga. Trotzdem, fügt er hinzu, die Reinigung ist "eines unserer langfristigen Ziele." Um sie erreichen, hat die Politik drei Programme ins Leben gerufen. Die sollen Flüsse in den verschiedenen Landesteilen miteinander verbinden. Das Ziel: die Wasserverfügbarkeit in den Flüssen zu erhöhen, die austrocknen.
Menschen mit Wasser zusammenbringen
Aber Rajender Singh, Gewinner des Stockholm Water Prize - auch bekannt als Nobelpreis für Wasser - betrachtet die Pläne skeptisch. "Flüsse zu verbinden, das macht Indien nicht frei von Dürre und Überflutungen", sagt er. "Das wird Spannungen und Konflikte im Land hervorrufen."
Singh hat selbst bereits acht Flüsse wieder zum Leben erweckt und so mehr als eintausend Dörfer im westindischen Staat Rajasthan wieder mit Wasser versorgt. Er sagt, dass es bei den Bemühungen um einen sauberen Ganges vor allem um den Einsatz großer Technik geht.
Er plädiert dafür, die Gemeinden einzubeziehen, die Bäume an den Ufern pflanzen, um Versandung und Erosion an den Zuflüssen des Ganges Herr zu werden. "Wenn wir unser Land von Dürre und Überschwemmung befreien wollen, müssen wir die Menschen für die Flüsse interessieren", sagt er. Angesichts der Tatsache, dass Hindus bereits eine tiefe Beziehung zum heiligen Ganges haben, gibt es also bereits eine Grundlage, auf der man aufbauen kann.
Swami Chidanand Saraswati, Gründer der Nichtregierungsorganisation Ganga Action, die sich dem Schutz des Flusses widmet, weist am Ende der Abendgebete in Rishikesh auf die Konsequenzen hin, die ein Scheitern haben könnte: "Wenn der Ganges stirbt, stirbt Indien", sagt er. "Der Verlust von Gletschern ist ein Verlust von Leben. Wasser ist Leben, Wasser ist ein Segen. Deshalb ist es unsere erste Pflicht, die Gletscher zu schützen."